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Im Bauch der Stadt der Liebe

Von Gerd Niewerth aus Paris, 07. Jänner 2012, 00:04 Uhr
Im Bauch der Stadt der Liebe Der Großmarkt Rungis in Paris ist größer als Monaco und der größte Umschlagplatz der Welt für frische Lebensmittel
Was der Bauch begehrt: Dieser Hummer landet wohl bald im Topf. Bild: Rungis

Es ist kurz vor fünf, als der Bus aus der Charente in Rungis vor dem Pavillon de la Marée zum Stehen kommt. Gut fünf Stunden Fahrt liegen hinter den fünfzig Männern und Frauen der Landwirtschaftlichen Genossenschaft Sèvre & Belle. Früh aufstehen ist für die Landwirte kein Problem.

Die meisten stünden jetzt daheim im Stall und müssten Bullen, Schweine und Ziegen füttern. Heute besuchen sie Rungis, den größten Handelsplatz der Welt für frische Lebensmittel: den Bauch von Paris.

Médéric Brunet und seine Leute sind hellwach und neugierig, aber dank ihres bodenständigen Naturells nicht so schnell aus dem Häuschen zu bringen. „Wir sind zum ersten Mal hier und lassen uns überraschen“, sagt der Chef der Kooperative, ein Mann um die Fünfzig, mit dem Lächeln des Skeptikers.

Rungis ist eine Welt für sich, eine Stadt vor den Toren der Weltstadt: mit Hotels, Brasserien, Banken, Polizeistation und eigenem Bahnanschluss. Allein schon seine Ausmaße machen den Großmarkt zu einem Ort der Superlative. Mit einer Ausdehnung von 232 Hektar übertrifft Rungis sogar das Fürstentum Monaco. 1200 Firmen und 12.000 Mitarbeiter sind verantwortlich, dass 18 Millionen Franzosen und benachbarte Europäer bestens versorgt werden: mit Rindersteaks und Lachs, Kartoffeln und Äpfeln, Bressehühnern und Truthähnen, Camembert und Geflügel, Nelken und Rosen. Jedes Jahr schlagen sie hier 1,5 Millionen Tonnen Lebensmittel um.

Der Rolls-Royce der Austern

In der hell erleuchteten Fischhalle, einer wahren Gourmet-Kathedrale, auf der sie in meterhohen blauen Neonröhren die Kennung A4 gesetzt haben, läuft auch den Landwirten aus der Charente das Wasser im Mund zusammen. In schneeweißen Styroporkisten warten Barsche und Thunfisch, Steinbutt und Bio Gambas, Austern von der Île de Ré sowie Hummer aus dem Atlantik auf Abnehmer. In dieser genussintensiven Zeit rund um das Jahresende bemühen sich die Großhändler um ein besonders erlesenes Angebot. „Den Leuten ist jetzt nicht nach Hacksteaks zumute, sondern nach feinen Jakobsmuscheln“, sagt Dominique, der durch die Hallen führt und ein echtes Rungis-Original.

Fast am Ende des 215 Meter langen Pavillons und etwas abgetrennt von den anderen Händlern bietet das Traditionshaus Blanc die legendären Gillardeau feil. „Der Rolls-Royce unter den Austern“, bemerkt Dominique und zieht die Augenbrauen hoch. Gillardeau-Austern, ein kulinarisches Ausrufezeichen, gelten geschmacklich als besonders rein. Dafür kosten sie auch viermal so viel wie herkömmliche Schalentiere: 1,30 Euro das Stück ohne Steuern. Wer seidene Krawatten von Hermès trägt und feinsten Champagner der Marke Dom Pérignon hinter besagte Binde zu gießen pflegt, der wird sich mit geschlossenen Augen womöglich auch an einer Delikatesse namens Ormeau laben. In der Biologie heißt sie Seeohr, weitaus schöner klingt hingegen Irismuschel. 50 Euro das Kilo, ruft der stolze Verkäufer, und Dominique fügt süffisant hinzu: „Das sind 15 Euro mehr als an normalen Tagen.“

Rushhour am Marktplatz

Wenig später bahnt sich der Reisebus seinen Weg durch ein Wirrwarr von breiten Achsen und engen Sträßchen, Kreisverkehren und Parkplätzen. Mehr als 20.000 Lastwagen und Transporter steuern Rungis jeden Tag an. Mitten in der Nacht herrscht hier ein Verkehrschaos wie in Paris am Tage während der Rushhour. In den Hallen führen Gabelstapler und Hubwagen einen atemberaubenden Tanz auf mit Paletten und Kisten, die blitzschnell in den Bäuchen von Lieferwagen und Kühl-Lastern verschwinden.

Wenn in der Marée um sechs die Lichter erlischen, ist in der Halle D4 alles Käse. Frankreichs Stolz, sagt Christian, der in der Charente Milchkühe züchtet. Nirgendwo in der Welt ist die Vielfalt an Käse größer als in Rungis. Vierhundert Käsesorten liegen hier aus, fast nur französische: hier der Pont l’Eveque aus der Normandie, dort Käse aus Savoyen, groß wie ein Wagenrad. Zu den Stars der Käsehalle zählt der kostbare Bleu de Termignon, ein erstklassiger, seltener Blauschimmelkäse aus der Region Rhône-Alpes mit nussigem, süßsäuerlichem Geschmack. Hergestellt wird er aus Rohmilch, die die Almbauern hoch oben auf 2000 Metern aus Tarenteser-Rindern gewinnen. Dass sie sich in der Käsehalle bewegen, erahnen die Besucher selbst mit verbundenen Augen. „Hier riecht’s nicht unbedingt nach Chanel No. 5“, witzelt Dominique. Es ist eine spektakuläre Vielfalt, die den General Charles De Gaulle, den Republikgründer, einst zu der berühmten Bemerkung veranlasste: Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 246 Käsesorten gibt?

Der gute Ruf bröckelt

Nicht nur seiner Vielfalt wegen zählt Rungis zu den Pflichtadressen Pariser Gastronomen. „Ich nehme nur frisches Gemüse, frisches Obst und frisches Fleisch“, sagt Aimé Courgoureux, der Wirt der Brasserie Ma Bourgogne, einem urigen Weinlokal auf der vornehmen Place des Vosges im Pariser Marais-Viertel. Jeden Donnerstag um zwei Uhr Morgens schwingt sich der Gastronom hinter das Steuer seines Sprinters, um in Rungis selbst ausgiebig auf Einkaufstour zu gehen.

Heute gilt Frankreich noch immer als Gourmetparadies und Paris als Hauptstadt der Spitzengastronomie. Doch der sagenhafte Ruf droht zu zerbröckeln wie ein altes Baguette. „In Japan gibt’s jetzt mehr Drei-Sterne-Köche als bei uns“, sagt die zweite Tourleiterin Nathalie Fraboulet, den schleichenden Verfall der französischen Esskultur beklagend. Die Franzosen verstünden immer weniger vom Kochen, fügt die resolute Frau hinzu, und Dominique, von zwanzig verlorenen Jahren schwadronierend, pflichtet ihr kopfschüttelnd bei: „Neulich stand ein Schüler vor einem Thunfisch und hielt ihn für eine Sardine!“

Auch die Landwirte aus der Charente, die in derselben Mission unterwegs sind wie die große Familie von Rungis, nämlich ihre Landsleute mit allerbester Qualität zu versorgen, werden gegen Ende der zweieinhalbstündigen Tour zunehmend mürrisch. „Zu wenige einheimische Produkte, zu viel Importware“, ärgert sich der Kooperativen-Direktor in der Fleischhalle. Worauf ihm Nathalie prompt die Ursache nennt: „Die Franzosen kaufen neuseeländisches Lamm, weil sie sich die teuren heimischen Produkte nicht mehr leisten können.“

Zufall oder nicht: Kurz drauf schiebt sich Ausbildungsministerin Nadine Morano samt Tross an der Besuchergruppe vorbei. Politiker besuchen Rungis gerne, das verrät Nähe zum arbeitenden Volk. Doch heute muss sich die Politikerin bittere Klagen der Metzger anhören. „Wir finden einfach keine Leute mehr“, stöhnt der Obermeister, ein rundlicher Mann mit rosa Wangen und von oben bis unten in Weiß gekleidet. Die Ministerin wird ihnen Abhilfe versprechen. Natürlich. In vier Monaten gehen die Franzosen zur Wahl.

Rungis verströmte eine Atmosphäre aus tiefem Stolz und wabernder Zukunftsangst. Wird auch das Feinschmeckerparadies Frankreich eines Tages von seelenlosen Discountern und boomenden Fastfood-Ketten erobert, so wie Gallien einst von Rom? „Nein!“, erwidert Nathalie trotzig und fügt hinzu: „Rungis ist ein gallisches Dorf, genau so wie bei Asterix und Obelix, wir halten zusammen.“ Rungis, sagt Nathalie fast beschwörend, müsse bleiben, was es seit vierzig Jahren ist: „das größte Schaufenster der Welt für alles Frische.“

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