"Nahschuss": Wie die DDR einen Stasi-Beamten zum Tode verurteilte
Lars Eidinger brilliert in einem furiosen historischen Drama – ab heute im Kino zu sehen.
"Nahschuss" ist ein Kinofilm, den man nicht so schnell vergessen kann. Zu erschütternd ist die Geschichte, die vom System der Staatssicherheit (Stasi) in der DDR inspiriert ist (mehr in der Box). Zu sehr ist Salzburgs "Jedermann" Lars Eidinger seine Rolle in Fleisch und Blut übergegangen. Dabei fängt die DDR-Tragödie über einen Stasi-Beamten, an dem das eigene System die Todesstrafe vollstreckte, nicht einmal so richtig gekonnt an.
Er hat es ja verdient
Eidinger, 1976 in Westberlin geboren, spielt in der Regie der Göttingerin Franziska Stünkel (48) den Wissenschaftler Franz Walter. Nach einer Liebesnacht, die in der Verlobung mit Cornelia (Luise Heyer) endet, soll er aus Ostberlin nach Afrika fliegen, um ein Jahr zu forschen. Er steht im Flugzeug, als ihm jemand auf die Schulter tippt und unmittelbar Erlösung bietet: Wenn der fußballbegeisterte Walter dem Auslandsnachrichtendienst der DDR hilft, sich auf die Weltmeisterschaft 1974 vorzubereiten, darf er seine frühere Professorin beerben.
Ein Angebot, das zu gut ist, um es abzulehnen. Und zu ideal zugeschnitten, um in Stünkels Drehbuch glaubhaft zu wirken. Eidingers Figur ist jetzt schon überdeutlich als Beute punziert. Walter hüpft freudig wie in einem DDR-Werbevideo auf dem Balkon der sehr schicken Wohnung auf und ab, die er und Cornelia bekommen. Dann beginnt der Job. Stünkel lässt auf wissende, exakte Weise Risse in Walters schöner, neuer Welt entstehen. Mit seinem Vorgesetzten Dirk Hartmann (Devid Striesow) reist Walter in den Westen, um einen ostdeutschen Fußballer unter Druck zu setzen, der zum Hamburger HSV gewechselt hat. Walter ist ehrgeizig, willig, überzeugt, der Sportler habe die Intention verdient. "Die DDR hat ihn schließlich groß gemacht."
Hartmann ist mit allen Wassern gewaschen, genauso säuft er, veruntreut Geld und betrügt seine Frau bei jeder Gelegenheit. Striesow bewies schon als NS-Scherge im Oscar-Werk "Die Fälscher" (2007), wie gut er einen banal grinsenden Lebemann geben kann, der hinter der Fassade eines Systemerfüllers den Wendehals versteckt. Er legt vor, und Eidinger zeigt in geschickter, präziser Mimik erste Anzeichen von Abscheu.
Sie wird stärker, bis es zur kompletten innerlichen Ablehnung der Stasi kommt. Das Maß ist voll, als die Gesundheit eines unbeteiligten Menschen angegriffen wird. Walter sagt erstmals: "Das mache ich nicht." Der Startschuss des Systems, dem man nicht einfach kündigen kann, fällt, sich mit aller Vehemenz gegen ihn zu wenden – Manipulation, psychische Folter. Man nutzt seinen Schwachpunkt: Heyer als Cornelia, die ebenbürtig agiert. Eidinger brilliert als minutiös verfallender Mann. Auserzählt wird nicht alles.
Stünkel schafft geschickt Raum für Atmosphärisches. Walters Isolation und Verzweiflung werden umso schmerzhafter erfahrbar, je enger sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzieht. Man kennt und spürt in einem von Paranoia durchzogenen Klima das Unausweichliche. Immer wieder rückt Stünkel Eidingers Nacken, die Stirn über den tränenden Augen in den Fokus.
Der "Nahschuss" wird kommen. Die Frage ist nur, wann. Der Horror hält sich bis zum letzten Atemzug, bei dem man weiß, dass man einen zutiefst erschütternden wie wichtigen Film gesehen hat.
Hintergrund:
Inspiration für "Nahschuss" ist Werner Teskes Leben, der Film versteht sich jedoch nicht als Nacherzählung. Teske (1942-1981) war Hauptmann im Ministerium für Staatssicherheit (MfS). 1967 von der Stasi angeworben, entwickelte er starke Zweifel am System.
1979 lief ein MfS-Offizier in die BRD über. Teske wurde daraufhin kontrolliert, man stellte Unregelmäßigkeiten bei Dokumenten und Geldern fest. Es folgte eine rechtswidrige Hinrichtung u. a. wegen angeblich vollendeter Spionage. Das Urteil wurde 1993 annulliert. Ein DDR-Militärrichter und ein Militärstaatsanwalt wurden im Fall Teske zu vier Jahren Haft wegen Totschlags und Rechtsbeugung verurteilt.