Wie man eine Gesellschaft gegen Mitgefühl impft
Salzburger Festspiele: Regisseur Ostermeier veredelt Ödön von Horváths Roman "Jugend ohne Gott" zum Theater-Triumph.
Das Publikum hat im Salzburger Landestheater Platz genommen, und weil sich trotz beleuchteter Bühne nichts rührt, schwillt dieses Rascheln und Hüsteln einer ungeduldigen Masse an. Jörg Hartmann, der als bemerkenswert kauziger Dortmunder "Tatort"-Kommissar Faber bekannte Schauspieler, tritt aus den Besuchern heraus.
Schwarzes T-Shirt, schwarze Hose – in dieser Allerweltsgarderobe stellt er sich mit einem Gesicht an die Rampe, das gewöhnlich macht, wer vor Vorstellungen über eine Kollegen-Erkrankung informiert. Nein, keine Besetzungsrochade zur Premiere von "Jugend ohne Gott", sondern Hartmann fragt: "Was verdanke ich Adolf Hitler?" Die Antwort gibt er selbst: "Alles!" Und während er sich in den Lehrer aus Ödön von Horváths 1937 veröffentlichtem Roman verwandelt, geleitet er das Publikum vom Heute ins Gestern zur immerwährenden Gültigkeit individueller Verrohung in totalitären Regimen.
Der Text ist Briefen entlehnt, die real an Hitler geschrieben wurden. Es ist die perfekte Ouvertüre zur von Regisseur Thomas Ostermeier (Chef der Schaubühne Berlin) und Dramaturg Florian Borchmeyer blendend eingefädelten Horváth-Prosa, die einst Schul-Pflichtlektüre war.
Der humanistische Grundwerte nicht unterschreitende Lehrer hat es sich im Reich der Plebejer, wie Horváth die Despoten nennt, dennoch eingerichtet. Seine Schüler und Systemzöglinge, die ihn ob seiner Haltung ("Afrikaner sind auch Menschen") ablehnen, wähnen sich als Bestandteile einer Maschinerie und halten im Camp Wehrsportübungen ab. Bernardo Arias Porras, Damir Avdic, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, Lukas Turturm, Veronika Bachfischer und Alina Stiegler werden zu famosen Jongleuren von rund 40 Rollen. Ostermeier dreht präzise an den Schrauben dieses Bühnen-Kraftwerks, das zweieinhalb pausenlose Stunden Energie produziert.
Der rassistischste unter den jungen Eiferern wird in dem von Jan Appelbaum (Bühne) und Erich Schneider (Licht) famos gestalteten Wald erschlagen aufgefunden. Verdächtig ist ein Tagebuch schreibender Mitschüler, der das Gfrast verdächtigt hatte, seine Notizen über die Begegnung mit einem streunenden Mädchen gelesen zu haben. Stattdessen hatte der Lehrer in den Aufzeichnungen gestöbert. Dass der wirkliche Mörderbub nur sehen wollte, wie ein Mensch stirbt, serviert Ostermeier schlank und ohne Knall. Die Schüler nennen den Lehrer "Afrikaner" (nicht "Neger", wie bei Horváth). Nach Afrika will er nun, um endlich nicht menschenverachtendes Gesindel zu unterrichten. Langer, gewaltiger Applaus.