Hallstatt: Lust auf Leere
Wenn in Hallstatt das Licht mit dem Schatten ringt, verdünnt sich der Touristenstrom zum Rinnsal. Umso reizvoller zeigt sich das Welterbe-Juwel im November.
Ein dämmernder Novembermorgen. Das Alpenvorland ertrinkt in einem Nebelmeer. Während der Traunstein noch seine dunkle Schattenseite zeigt, reckt die schlafende Griechin ihre markante Felsnase in die ersten Sonnenstrahlen. Am nördlichen Zipfel des Hallstättersees tanzen filigrane Dunstfädchen auf dem Wasser. Ein Stück weiter schickte der Schriftsteller Alfred Komarek im Roman "Die Schattenuhr" den Journalisten Daniel Käfer in diese "enge, ernste Welt, zwischen Berg und See gezwängt. Dieser Ort hatte auf ihn immer schon wie ein archaischer Klotz im Strom der Zeit gewirkt. Daran änderte auch die flüchtige Neugier der vielen Fremden nichts."
"Besetzt. Full"?
Weder von Fremden noch von vielen ist um halb neun Uhr früh etwas zu bemerken. Umso befremdlicher erscheint das Schild an der Abzweigung zum Parkplatz 2 nahe der Talstation der Bergbahn zum Hochtal und zu den Salzwelten: "Besetzt. Full". Im Salzkammergut, da kann man gut widerständig sein, denkt man und ignoriert die Botschaft. Wohl getan – wo 140 Fahrzeuge Platz haben, stehen drei Autos.
Die 746-Seelen-Gemeinde, zu Vor-Pandemie-Zeiten gemeinsam mit Venedig Synonym für das Wort "Overtourism", wirkt wie ausgestorben. Stille begleitet auf der Seestraße, die in den Ortskern führt, wo die Türme der evangelischen und katholischen Kirche erstrahlen, ehe sich der Krippenstein wieder kurz vor die Sonne schiebt. Vom Turmkreuz krächzt eine Krähe. Die schlagenden Flügel eines Schwanes, der vor dem anlandenden Schiff flieht, klatschen auf das Wasser. Das Boot setzt drei Touristenpaare ab, die es beim Bahnhof am gegenüberliegenden Ufer aufgenommen hat. Die Novembertage, die hier mehr Nicht- als Nachsaison sind, geben ihnen genügend Raum, den geschichtsträchtigen Ort zu erkunden, dessen Reichtum immer auch mit Elend verknüpft war.
"Es tuat eh glei, waun neama so vü Leit då san", sagt Johann Unterberger. Der Hallstätter mag diese Zeit des Jahres. Mit seinem Wanderstock in der Rechten stapft der 69-Jährige auf dem mit braungelben Blättern von Buche und Ahorn bedeckten Pfad hinauf zum Salzberg. 33 Jahre hat er im Bergbau gewerkt. "Es is eigentli vü zuagaunga den Summa. Österreicher, Deutsche, Inder, Araber. Nur de Chinesn san ausbliem – måcht eh nix", sagt er. Weggehen von hier fiele ihm nie ein. Er erzählt, wie ihn am Telefon die Angestellte eines Reisebüros bezirzte, doch einmal das Weite zu suchen. "I hob ihr gsågt, i wohn im schönstn Ort da Wöd. Und då måch i a mein Urlaub", sagt er und grinst schelmisch.
Nach etwa einer Stunde und 360 Höhenmetern ist der Rudolfsturm erreicht, unter dem die Aussichtsplattform "Welterbeblick" wie ein Keil über den Abgrund ragt. Wo sich sonst knipsende Massen drängen und die Objektive auf die Dächer von Hallstatt halten, verirren sich derzeit nur wenige Besucher. Auf der Terrasse des Restaurants genießt ein Quartett von den Philippinen Erdbeer- und Sachertorten. Sie wählten den November für ihren Hallstatt-Trip, weil sie nur zu dieser Zeit Urlaub bekamen. "Gut ist, dass nur wenige Leute da sind", sagt ein junger Mann, "aber schlecht, dass es kalt ist."
Beim Abstieg führt der Weg über die "Bedeckte Stiege" auf den Friedhof der katholischen Pfarrkirche. Wo sich sonst vor dem berühmten Beinhaus mit den bemalten Totenschädeln Wartende tummeln, herrscht Grabesstille. In die "Obere Straße" verirren sich kaum Besucher. Hier kommt man an der hölzernen Bank vorbei, auf der bis 1890 die sogenannten Kerntragweiber rasteten, wenn sie ihre schwere Steinsalzlast vom Berg schleppten. Unweit davon plätschert das Quellwasser eines Brunnens, dem eine heilende Wirkung bei Kropfleiden nachgesagt wurde.
Eine Verdickung des Halses angesichts mit Flanierenden vollgestopften Gassen muss im November niemand befürchten. Es ist die perfekte Zeit, sich der morbiden Aura und der anmutigen Schönheit Hallstatts auszuliefern und in seine 7000 Jahre alte Geschichte – zum Beispiel im Welterbemuseum – einzutauchen.
Es lohnt sich, ins Echerntal vorzudringen, das von der Sonne, die sich hinter den Hirlatz-Gipfeln hält, keines Blickes gewürdigt wird. Den Weg beschritten einst gemeinsam der Dachsteinforscher Friedrich Simony und der Dichter Adalbert Stifter, was Letzteren zur Erzählung "Bergkristall" inspirierte.
Schatten legt sich auch auf menschliche Bedürfnisse. Hungrige haben zu verdauen, dass sie auf viele "Sorry, we are closed"-Taferl stoßen. Dafür kennt die WC-Nutzung keine Nachsaison. Sie kostet nach wie vor einen Euro.