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"Ich habe mich wie ein Fehler gefühlt"

Von Von Dietlind Hebestreit, 11. Juli 2018, 00:30 Uhr
Barbara Sitter

Depression als Gefühls-Killer: Junge Oberösterreicherin spricht über ihre Erkrankung, einen Selbstmordversuch und macht anderen Betroffenen Mut.

Vor zwei Jahren wollte ich mich umbringen. Ich finde, ihr solltet das wissen." So beginnt ein Brief, den die 26-jährige Barbara Sitter an ihre Freunde, Verwandten und Bekannten verfasst hat (siehe unten). Erst damals stellte ein Psychiater bei der jungen Frau die Diagnose Depression.

Dass etwas nicht in Ordnung ist, weiß sie aber schon seit der 6. Klasse Gymnasium: "Ich hatte Probleme, mich in der Schule zugehörig zu fühlen, fühlte mich alleine, wie eine Außenseiterin. Als hätte ich keinen Platz in der Gesellschaft. Ich habe mich wie ein Fehler gefühlt, als wäre ich nicht ein Teil des Plans." Groß geredet wurde über diese Gefühle aber nicht.

Die Leonsteinerin machte eine Ausbildung als Buchhändlerin, entschloss sich, nach Wien zu gehen und zu studieren: "Ich wollte unbedingt, dass das funktioniert." Was sich im ersten Semester noch positiv entwickelte – sie war in einer Studentengruppe gut integriert –, ging im zweiten Semester schief: "Ich hatte das Gefühl, sozial unfähig zu sein, und schaffte es nicht, Freundschaften zu erhalten. Und ich habe begonnen, mich selbst zu verletzen." Ihr Problem war, dass sie gar nichts mehr fühlte – kein Glück, keinen Schmerz, keine Trauer, kein Mitgefühl. Auch nicht mit sich selbst.

Hoffnungslos und lebensmüde

An einem Abend im zweiten Semester konnte sie es schließlich nicht mehr ertragen. Während eines dissoziativen Schubs versuchte sie, sich am Gürtel in Wien vor Autos zu werfen. "Ich habe die Autos nicht gesehen, erinnere mich aber an das Hupen." Dass ihr auf der Straße nichts passierte, ist dem Zufall zu verdanken und der Tatsache, dass in der Nacht weniger Autos unterwegs waren. "Wenn ich damals besser organisiert gewesen wäre, würde ich heute nicht mehr leben", so das Fazit der Studentin.

Heute ist ihr auch klar, dass dieses Verhalten nicht nur hochgradig selbstgefährdend war, sondern sie auch andere Menschen damit in Gefahr gebracht hat. Nach diesem Vorfall holte sich die Oberösterreicherin Hilfe. Und fand einen Psychiater, bei dem sie sich verstanden fühlte. Er zwang sie nicht, Tabletten zu nehmen – "Ich hatte das Gefühl, dass mir das nicht helfen würde" –, sondern empfahl ihr eine Psychotherapie.

Zwischenzeitlich akzeptierte sie auch Tabletten: "Der Psychiater hat das richtige Medikament für mich gefunden. Die Dopaminwiederaufnahmehemmer machen nicht schläfrig. Das ist wichtig, weil ich während solcher Episoden immer sehr müde bin, oft zwölf Stunden und mehr schlafe. Ich sehe die Tabletten heute als Hilfsmittel."

Oft ist es schwierig, den ersten Schritt in Richtung Hilfeholen zu machen. "Wie soll man jemand Fremden anrufen, ihm die eigenen Probleme schildern und sich einen Termin ausmachen, wenn man es nicht einmal schafft, sich die Zähne zu putzen?"

Warum Sitter mit ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit geht: "Ich finde, dass es zu viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht und die nicht darüber reden. Ich hätte damals jemanden gebraucht, der mutiger ist, mich auf meine Verletzungen am Arm und auf meinen Zustand konkret angesprochen hätte."

Die Angehörigen "entlasten"

Wenn man sein Leben beenden möchte, sei das kein Zeichen, dass man seine Familie nicht mehr lieb habe. Im Gegenteil: "Man hat das Gefühl, eine Last von den Angehörigen zu nehmen." Was die junge Frau mit ihrem Brief erreichen will: "Ich will, dass diesen Text fremde Menschen lesen, und wenn sie sich wiederfinden, dann will ich ihnen sagen, dass es besser wird. Dass es leichter wird. Dass sie nicht alleine sind. Dass sie eine Stimme haben, die es wert ist, gehört zu werden."

 

Brief von Barbara Sitter:

Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte.

Vor zwei Jahren wollte ich mich umbringen. Ich finde, ihr solltet das wissen. Manche von euch haben es vielleicht geahnt. Manche haben vielleicht die Narben auf meinem Unterarm gesehen und gewisse Schlüsse gezogen. Aber ihr habt nicht gefragt. Ich erzähle es euch trotzdem.

Vor zwei Jahren war ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich mir sicher war, keine Minute länger mehr durchhalten zu können. Ich wollte nur noch, dass es aufhört. Alles. Ich fühlte mich wie eine einzige Platzverschwendung. Die Luft, die ich atmete, den Platz, den ich physisch verbrauchte, die Zeit, die andere mit mir verbrachten. Ich fühlte mich so wertlos, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Auf einem Menschen zugehen und von ihm verlangen, sich meine Probleme anzuhören, für dich ich keine Ursache finden konnte, erschien mir wie die größte Anmaßung überhaupt. Für meine Gefühle hatte ich keine Gründe. Sie waren einfach da. Und irgendwann waren sie mehr, als ich ertragen konnte. Davor begleiteten mich die Selbstmordgedanken schon fünf, acht, zehn Jahren lang. Ich kann es heute nicht mehr genau sagen, wann sie aufgetaucht sind, aber irgendwann waren sie da und seitdem sind sie treu an meiner Seite. Manchmal lauter, manchmal weniger laut. Manchmal monatelang still. Aber sie sind verlässlich immer wieder gekommen.

Warum hab ich sie vorher nie angesprochen? Nun, Selbstmordgedanken sind ein Tabu. Ich habe mich geschämt. Außerdem konnte ich nicht abschätzen, wie mein Umfeld reagieren wird. Ob sich auch nur eine einzige verständnisvolle Person findet.

Mir hätte es damals geholfen, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, alle brechen in Panik aus, wenn ich das Wort Selbstmordgedanken in den Mund nehme. Es hätte mir geholfen, wenn ich gewusst hätte, dass es in meinem Freundes-, Bekannten- und Verwandtenkreis auch Personen gibt, die schon mal Selbstmordgedanken hatten. Es war furchtbar angsteinflößend für mich, als das erste Mal der Gedanke im Kopf auftauchte. "Ich will nicht mehr. Ich bring mich um." Im nächsten Moment war er wieder weg und tief drinnen wusste ich, dass ich eigentlich leben will. Dass ich neugierig bin. Dass ich mutig bin. Aber er ist wiedergekommen und er wurde immer lauter und gleichzeitig wurden die Gedanken lauter, die mir gesagt haben, dass ich wertlos bin und eine Platzverschwendung. Es hätte mir geholfen, wenn mir jemand gesagt hätte, dass es okay ist, Selbstmordgedanken zu haben. Dass sie keinen Freak aus mir machen, kein Monster. Dass es nicht der Anfang eines unumkehrbaren Weges ist. Dass Selbstmordgedanken da sein dürfen und wir sie nehmen müssen als das, was sie sind: ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass es etwas gibt in seinem Leben, das man ändern muss. Vielleicht ist es die Einstellung, vielleicht ist es die Wohnsituation, vielleicht ist es die Partnerschaft. Aber Hilfe zu bekommen, ganz gleich welche, hat man immer verdient.

Wie fängt man an? Wie spricht man aus, was so schwer auf der Zunge liegt, dass es unmöglich erscheint, es loszuwerden? Wie sage ich meiner besten Freundin, dass ich versucht habe, mich umzubringen? Wie sage ich ihr, dass ich noch immer nicht leben will? Wie sage ich ihr, dass ich ihr nicht versprechen kann, dass es ein nächstes Treffen geben wird, weil ich nicht weiß, ob ich die nächste Woche überlebe? Wir haben uns verabschiedet. Ich war schon längst weg. Ich fühlte nichts, als ich die Worte aussprach. Ich erinnere mich, als ich meinen Eltern am Küchentisch gegenübersaß, am Tag nach meinem Selbstmordversuch und meine Mutter mich entgeistert fragte, ob ich mich denn wirklich umbringen wollte. Mir kam die Frage damals so unendlich naiv, ja dämlich vor. Natürlich wollte ich mich umbringen. Mich umzubringen schien das einzig Sinnvolle zu sein.

Aus der Retrospektive fällt es mir schwer, den Zustand zu beschreiben, in dem ich mich damals befand. Ich fühlte mich wie eine Marionette. Innerlich tot. Ich hatte keine Gefühle mehr, kein Mitgefühl mit irgendjemanden. Ich konnte den Schmerz, den ich verursachte, nicht nachvollziehen. Ich war darüber hinaus. Stand neben mir. Neben der Spur. Ich hatte das Gefühl, es gäbe für mich keine Spur mehr. Wenn ich mich umbrächte, würde ich eine Ordnung wieder herstellen. Einen Fehler korrigieren. Meine Eltern waren nur unfähig, es zu sehen.

Es war ein langer Weg zurück. Und ich bin eine andere geworden. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass ich in dieser Nacht gestorben bin. Die Person, die ich davor war, gibt es nicht mehr. Von Zeit zu Zeit fällt es mir schwer, die Person zu erkennen, die ich geworden bin und hin und wieder habe ich das Gefühl, ich hätte doch in dieser Nacht sterben sollen und alles was ich jetzt erlebe, ist ein Traum. Ein Geisterdasein. Manchmal fühle ich mich ausgesperrt aus dieser Welt, als wäre sie für mich damals stehen geblieben und hätte sich für alle anderen weitergedreht. Manche Leben, die mit meinem verbunden sind, haben Berührungspunkte. In manchen Bereichen nähert sich meine Welt der echten so sehr an, dass ich sie nicht unterscheiden kann. In anderen schwebt sie im luftleeren Raum.

Es ist mir ein Anliegen, meine Geschichte öffentlich zu machen. Denn ich habe mich eingereiht in die schweigende Masse der Depressiven, die still vor sich hinleiden, sich Hilfe suchen oder irgendwann froh sind, das Kapitel hinter sich lassen zu können. Wir lassen es hinter uns, reden nicht mehr darüber und verweigern so anderen, die sich in der selben Situation befinden wie wir früher wichtige Hilfestellung. Heute geht es mir gut. Es gibt nach wie vor Baustellen in meinem Leben, aber es gibt auch wieder Blumenwiesen.

Ich möchte, dass dieser Text Menschen erreicht, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie die, in der ich damals war. Ich möchte, dass sie aus diesem Text Mut schöpfen und Vertrauen. Ich will, dass diesen Text meine Freunde lesen und meine Verwandten. Ich will, dass diesen Text fremde Menschen lesen und wenn sie sich wiederfinden, dann will ich ihnen sagen, dass es besser wird. Dass es leichter wird. Dass sie nicht alleine sind. Dass sie eine Stimme haben, die es wert ist, gehört zu werden.

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2  Kommentare
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lndsmdk (17.215 Kommentare)
am 11.07.2018 21:45

-> du bist nicht alleine, Mädchen,
du hilfst gerade anderen, danke!

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oberoesi (1.100 Kommentare)
am 11.07.2018 17:05

Danke für die Veröffentlichung des Briefes.

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