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Erzählen, um das Leben zu verstehen

Von Christian Schacherreiter, 21. November 2019, 06:00 Uhr
Erzählen, um das Leben zu verstehen
Anna Mitgutsch

Anna Mitgutsch wird in diesem Jahr mit dem Adalbert-Stifter-Preis ausgezeichnet.

Der Blick auf ihr Biogramm weist Anna Mitgutsch als Autorin aus, in deren Werk Welten zueinanderfinden, die einander nicht zwangsläufig nahe sind – geografisch und intellektuell. Mitgutsch hat nicht nur eine literaturwissenschaftliche Dissertation geschrieben (über den englischen Lyriker Ted Hughes), sie ist Zeit ihres Lebens der wissenschaftlichen Reflexion über Literatur verpflichtet geblieben. Zahlreiche Literaturkritiken und Abhandlungen zur Literatur legen davon ebenso Zeugnis ab wie ihre vielen Lehrveranstaltungen an Universitäten in den USA, Korea und Österreich. Auch das eigene Schreiben setzt sie immer wieder der Härteprobe der poetologischen Prüfung aus.

Wenn man Anna Mitgutsch verärgern will, dann fragt man sie möglichst penetrant, was denn an ihren Romanen autobiografisch sei und ob sie das wirklich alles selbst erlebt habe. In ihren poetologischen Abhandlungen und in Interviews hat Mitgutsch ihr Verständnis von literarischem Schreiben plausibel gemacht. Sie entnimmt zwar das Stoffliche aus ihrer Alltagserfahrung, aber die Erzählung ist nie bloße Wiedergabe im Sinne eines naiven Realismus. Das kann sie gar nicht sein, denn die Erinnerung ist nie völlig objektiv und zuverlässig. Und eine Autorin, die auch Sprachkünstlerin ist, setzt neu zusammen, stilisiert, modelliert und erschafft so eine eigenständige fiktionale Welt. Friedrich Schiller nannte das die "poetische Wahrheit".

Anna Mitgutsch verbindet nicht nur künstlerische Kreativität mit wissenschaftlicher Reflexion, sie bewegt sich auch in geografischen Räumen mit erheblichen kulturellen Differenzen: Österreich – USA – Israel. Die Erfahrung von Differenz, von Fremdheit und Heimatsuche ist zu einem wesentlichen Motiv in ihren literarischen Texten geworden. Lillian, die Protagonistin im Roman "In fremden Städten" (1992), ist eine in Österreich verheiratete Amerikanerin, die nach 15 Jahren Ehe ihre Familie verlässt, um einem jungen Sänger in die USA zu folgen. Das spontane Liebesgefühl erweist sich als Strohfeuer, die Heimkehr in das Herkunftsland USA als Illusion. Am Ende brennt tatsächlich ein Haus, Symbol der enttäuschten Hoffnungen.

Jüdisches Leid und Leben

In "Haus der Kindheit" (2000) erzählt Mitgutsch die Geschichte des Juden Max Bermann, der schon in der Zwischenkriegszeit als Fünfjähriger gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Brüdern Österreich verlassen hat, um in den USA ein besseres Leben aufzubauen. Die Familie zerbricht, aber Max ist der Einzige, der sich in den USA daheim fühlt. In der NS-Zeit fallen alle Familienmitglieder, die in Österreich geblieben sind, der Shoah zum Opfer. In den Siebzigerjahren reist Bermann nach Österreich, um das Haus seiner Familie zurückzufordern – ein zähes Unterfangen! Karl-Markus Gauß schrieb, anhand des Rechtsstreits um arisierten Besitz mache Anna Mitgutsch die "österreichische Misere" sichtbar, "die zwischen persönlicher Verdrängung und amtlicher Erledigung immer wieder aufbricht." Aber nicht nur darum geht es, sondern auch um Max’ trügerische Hoffnung, in der europäischen Heimat seiner Mutter und in der jüdischen Familientradition so etwas wie Heimat zu finden.

Mit "Familienfest" (2003) gab Anna Mitgutsch dem traditionellen Genre des Familienromans eine zeitgemäße Form. Der Handlungsraum ist Boston. Die zentrale Figur heißt Edna, menschlicher Mittelpunkt einer jüdischen Einwandererfamilie. Das Sederfest führt die Familienmitglieder zusammen. Edna hält die Erinnerung an die Familiengeschichte wach. Indem sie davon erzählt, versucht sie eine kollektive Identität und das Gefühl der Zusammengehörigkeit aufrechtzuerhalten. Aber an der Peripherie sind Zerfallserscheinungen nicht mehr zu leugnen. Nicht nur die privaten Lebenssituationen sind brüchig, auch die an das Judentum gebundenen Traditionen und Rituale verlieren in einer säkularisierten Welt ihre Kraft.

Fremd bleiben

Das Gefühl von Fremdheit zieht sich leitmotivartig durch Mitgutschs Werk. In ihrem Debütroman "Die Züchtigung" (1985) erzählte sie vom Frauenleben in der österreichischen Provinz, über das Drama der Geschlechter, eine Mutter-Tochter-Beziehung mit wenig Liebe und viel Gewalt, über weibliche Lebenspläne und zerstörte Illusionen. Fremd bleiben auch Personen, die am Rande stehen bzw. an den Rand gestellt werden, zum Beispiel der kleine Jakob in "Ausgrenzung" (1989). Die Diagnose "Autismus" wird für ihn zum sozialen Schicksal, auch für seine Mutter Marta, die nicht nur mit ihren schwierigen pädagogischen Aufgaben oft alleingelassen, sondern auch schuldig gesprochen wird.

Eine ähnliche Romanfigur wie Jakob begegnet uns noch einmal in "Zwei Leben und ein Tag" (2007), einem formal besonders kunstvollen Werk. Gabriel wird aufgrund einer Kinderkrankheit, deren Ausbruch ursächlich nicht geklärt ist, zum Außenseiter. Seine Mutter Edith versucht Gabriels Zugang zur Welt, seinen "anderen" Blick auf die Menschen und das Leben zu verstehen. In Briefen an ihren Ex-Gatten Leonard, die sie allerdings nie abschickt, formuliert sie ihre Gedanken zur gemeinsamen Geschichte. Leben und Werk des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville fließen in die Reflexionen der Erzählerin ein. Seine an Krisen reiche Biografie wird für Edith zum Medium der Selbstreflexion.

Verlust, Abschied, Tod

In "Zwei Leben und ein Tag" spricht Anna Mitgutsch die Frage nach freier Lebensgestaltung und/oder schicksalhafter Verknüpfung an, nicht archaisch im Sinne des alten "Fatums", sondern im Hinblick auf die menschliche Erfahrung, nur teilweise Herrin des eigenen Lebens zu sein. Die letzten Fragen nach der Transzendenz und dem Numinosen haben sich für Mitgutsch mit Moderne, Aufklärung und Zivilisation nicht erledigt. Es ist kein Zufall, dass sie in ihren zwei jüngsten Romanen vor allem Verlust, Abschied und Tod thematisiert. In "Wenn du wiederkommst" (2010) wird der Tod ihres Ex-Manns für die Ich-Erzählerin zum Anlass eines emotional ambivalenten Rückblicks auf eine komplexe Frau-Mann-Beziehung.

Der Roman "Die Annäherung" (2016) erzählt die Geschichte einer schwierigen, aber zuletzt versöhnlichen Eltern-Kind-Beziehung. Zwischen auktorialer Erzähl- und Tochter-Perspektive wechselnd, gelingt Anna Mitgutsch eine psychologisch erhellende Erzählung von der vorsichtigen, von Liebe getragenen Wiederannäherung einer Tochter an ihren 96-jährigen, gebrechlichen Vater. Indem Mitgutsch auch das familiäre Umfeld der Hauptfiguren ausleuchtet, ist "Die Annäherung" auch Familien- und Generationenroman – und zwar von einer Qualität, wie man sie selten findet.

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Autor
Christian Schacherreiter
Christian Schacherrreiter
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