Weißrussland: Überleben in einem sterbenden Land
MINSK. „Ob es in Weißrussland besser geworden ist?“ Die Lebensmittelverkäuferin in Gomel muss kurz nachdenken. „Ja, schon, es ist jetzt besser“, sagt sie. „Aber auch schlechter.“
Die positiven Veränderungen fallen sofort auf. Selbst das noch immer sehr sowjetische Weißrussland wird allmählich moderner. In der Hauptstadt Minsk gibt es internationale Geschäfte und teure Restaurants. Die Häuser der Innenstadt sind neu renoviert und die Straßen sauber.
Der schöne Schein in der Hauptstadt kann aber über die vielen sozialen Probleme des Landes nicht hinwegtäuschen. „Wir haben hier so viele arme Leute“, klagt Pfarrer Slawomir Laskowski aus Gomel. Er muss es schließlich wissen. Nach 22 Jahren Arbeit als Seelsorger kennt er die Probleme der weißrussischen Bevölkerung. Und er weiß, wie kinderreiche Familien und alte Menschen hier um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen.
Wodka ist billiger als Cola
Weißrussland ist noch immer eines der ärmsten Länder Osteuropas. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt hier unter der Armutsgrenze, heißt es offiziell. Tatsächlich sind es wahrscheinlich mehr. „Aber es wird ein bisschen besser“, sagt Pfarrer Slawomir. Immerhin hat Staatspräsident Lukaschenko vor seiner Wiederwahl im Dezember die Renten erhöht und auch mehr Geld für soziale Projekte im Staatsbudget eingeplant.
Doch gegen das Problem Alkoholismus unternimmt der Staat nichts. Das Nationalgetränk Wodka ist dabei, die weißrussische Gesellschaft zu ruinieren. Immer mehr Menschen – neuerdings auch Frauen und sogar Kinder – ertränken ihre Perspektivenlosigkeit im Alkohol. Die Folgen sind dramatisch: Die Familien sind zerrüttet, Kinder verwahrlost. „Viele Kinder können keine Nacht mehr durchschlafen, weil ihre betrunkenen Eltern so viel Lärm machen. Und in der Schule können sich die Kinder dann nicht konzentrieren“, klagt eine Lehrerin.
Wie überhaupt der Bildungsstandard in Weißrussland massiv im Sinken ist. Wer kann, verlässt das Land. Mehr als 90 Prozent der Weißrussen, die einen Studienplatz in Polen haben, kommen nicht mehr zurück. „Das ist ein großer Verlust für das Land“, sagt Pfarrer Slawomir. Zumal es auch keine ausländischen Fachkräfte gibt, die unbedingt nach Weißrussland drängen.
Dramatisch wird allmählich auch die Bevölkerungsentwicklung. Weißrussland ist ein sterbendes Land. Wenn dieser Trend anhält, wird die Bevölkerung laut UNO-Angaben bis zum Jahr 2050 von jetzt 10,45 Millionen Einwohnern auf 7,02 Millionen sinken. Die hohe Sterberate ist zum Teil natürlich auch eine Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Obwohl das Unglück nun bereits 25 Jahre zurückliegt, ist die Zahl der Krebserkrankungen in den radioaktiv verstrahlten Gebieten noch immer erhöht. Offizielle Statistiken dazu gibt es nicht. Doch auch diese Zahl ist beunruhigend: Von den rund 14.000 Einwohnern in der sogenannten Sperrzone sind mehr als 1000 Behinderte.
Verbitterte Rückkehrer
Trotzdem sind viele Menschen wieder in ihre alten Häuser zurückgekehrt. So wie die 72-jährige Frau, die jetzt mutterseelenallein wieder in ihrem verlassenen Holzhaus wohnt. Drei Jahre lebte sie woanders. „Mir wurde von den Behörden so viel versprochen, aber bekommen habe ich nichts“, sagt sie verbittert. Aber auch viele junge Menschen leben jetzt wieder in der Sperrzone, die offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Denn hier sind wenigstens die Wohnungen erschwinglich. Und Radioaktivität sieht und spürt man ja bekanntlich nicht...