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"Hier sind lebende Tote"

Von Manfred Wolf, 22. August 2020, 00:04 Uhr
"Hier sind lebende Tote"
Stanislaw Grzesiuk mit seiner Mandoline, die ihm geholfen hat, das Lager zu überleben Bild: Prószynski i S-ka

"Essen organisieren und sich vor der Arbeit drücken" – so hat der Pole Stanislaw Grzesiuk fünf Jahre in den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen überlebt – und mit Glück, Chuzpe, Humor sowie einer Mandoline. Seine Erinnerungen sind nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Wie oft Stanislaw Grzesiuk beinahe zu Tode geprügelt wurde und kurz davorstand, den "Weg in die Freiheit" durch den Schornstein des Krematoriums anzutreten, hat er nicht gezählt. Es spielt auch keine Rolle, er hat überlebt. Als einer von wenigen, die fünf Jahre durch die Menschenvernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gegangen sind. Dort, wo der Kurs für ein Menschenleben oft niedriger war als für ein Stück schimmeliges Brot. Dort, wo er vom Lagerkommandanten mit den Worten "Hier sind lebende Tote" in Empfang genommen wurde. Letzteres geschah am 4. April 1940 in Dachau. Damals dachte er noch: "Rede du nur, schließlich ist das Lager für Menschen gemacht und ich sehe, dass hier viele sitzen und ganz gut aussehen."

Ein fataler Irrtum – seinerseits. Und doch hat er überlebt.

Wie, darüber hat Grzesiuk, der nach seiner Rückkehr nach Polen einer der beliebtesten Musiker und Humoristen des Landes wurde, 1958 das Buch "5 Jahre KZ" geschrieben, das nun auf Deutsch erschienen ist. Die Erstveröffentlichung wurde 1958 nicht nur gefeiert. Denn in der Lesart vieler Überlebender und Regierungen war zwar vom internen Widerstand der Häftlinge die Rede, weniger aber davon, dass es Gewalt und Morde auch unter ihnen gab. Freilich stand über allem ein von der SS organisiertes Terrorsystem. Doch diese machte sich die Hände nicht alleine schmutzig. Sie ließ Lager-, Block- und Stubenälteste morden, Funktionshäftlinge – Kapos – führten bei den Arbeitseinsätzen ein Schreckensregime.

Der Einblick in die Unterdrückungsstruktur macht das Buch, das in Polen seit Jahrzehnten ein Klassiker ist, so besonders. Der gelernte Elektromechaniker Grzesiuk schreibt von Totbadeaktionen, erzwungenen Selbstmorden im Stacheldraht, Homosexualität unter den Häftlingen, dem Aufbau des Nebenlagers Gusen und dem Prozess des emotionalen Abstumpfens – aber stets mit einer Prise (Galgen-)Humor.

"Mit Ironie gegen den Terror", schreibt Gregor Holzinger in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Der Historiker und gebürtige Oberösterreicher arbeitete bei der Forschungsstelle des Mauthausen Memorials. Für ihn ist die Übersetzung des Buches, dass den Lageralltag so genau skizziert, bahnbrechend.

 

Dringen wir nun vor in Grzesiuks ungeschönte Erinnerungen …

 

In den fünf Jahren Gefangenschaft verinnerlichte Grzesiuk zwei Regeln, die ihm das Überleben sicherten: "Jegliche Arbeit vermeiden, selbst die leichteste. Und: Essen organisieren – ohne es Mithäftlingen zu stehlen." Als Essen zählte auch: weggeworfener Apfelputz, Erdäpfelschalen, Knochen und Brot, das gegen Ende des Krieges aus einem hohen Anteil Holz bestand. "Nie im Leben habe ich so viel Holz gegessen, das uns in dieser Zeit im Brot gegeben wurde. Es waren ganze Späne drin …"

Arbeit zu vermeiden in Arbeitslagern auf denen der Spruch "Arbeit macht frei" steht, klingt paradox. Doch in seinen Erinnerungen bekommt der Leser ein Gespür dafür, wie das geht und warum das wichtig war. Mancher "arbeitete mit ganzer Kraft, um nicht aufzufallen und nicht geschlagen zu werden. Dummkopf, dachte ich mir, der wird schnell verschnaufen müssen und dann verprügeln sie ihn und geben ihm eine noch schwerere Arbeit … Und das wird der Grund für neue Schläge sein … und dann der Wechsel zum Krematorium …".

Die Kapos trieben allerlei "Späße" mit den Inhaftierten, wie Grzesiuk sarkastisch schreibt. Er schildert den Fall eines Juden, der mit einem großen Stein auf seiner Schulter rund 30 Meter laufen musste. An beiden Enden standen Kapos, die ihn mit einem Knüppel auf Kopf und Rücken schlugen. Bis er nicht mehr aufstehen konnte und sie ihn mit Heu bedeckten und anzündeten. Der Mann brüllte und die Kapos kippten eine Scheibtruhe Kies auf ihn. Dann banden sie ihn mit den Füßen an ein Seil und ließen ihn in einen Brunnen hinunter … nach weiteren Grausamkeiten ging der Mann wankend zu einer kleinen Allee, die für Häftlinge verboten und an der die SS postiert war. "Gleich darauf hörten wir einen Schuss, dann noch einen … Ende."

"Wie ich bereits erwähnt habe, machte so etwas überhaupt keinen Eindruck mehr auf mich. Die emotionale Abstumpfung für das Leid und den Schmerz anderer kam daher, dass jeder pausenlos an sich selbst denken musste …", schreibt Grzesiuk.

Die Episode mit den Kapos ereignete sich in Dachau. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Mauthausen – oder "Mordhausen", wie ein Kamerad sagte. Am 15. August 1940, einen Tag vor der Überstellung ins Mühlviertel, kündigte ein Blockältester an: "Da, wo ihr hinfährt, ist es am schlimmsten. Schwerstarbeit und Vernichtung erwarten euch … Vergesst niemals, dass man nicht fallen darf, denn wer fällt, der steht nicht mehr auf."

Empfangen wurden Grzesiuk und seine Kameraden von der SS, die in Spalier stand. Sie mussten hindurchlaufen und erhielten ordentlich Schläge. "Ich kam zu der Überzeugung, dass man sich an Schmerz gewöhnen kann und man aufhört, sich vor Schlägen zu fürchten. Ich passte nur auf, mich nicht bei Vergehen erwischen zu lassen, für die man umgebracht wurde … aber sie konnten einen nicht nur aus einem nichtigen Grund töten, sondern auch ohne Grund."

Darum – und obwohl er Deutsch durchaus verstand – antwortete er stets mit "Niz verstejen", wenn er gefragt wurde, was er mache. "So bekam ich nur der Form halber eine auf die Schnauze."

Auch er schlug zu. Um sich zu behaupten. Seine Spezialität war der Kopfstoß, den er aber nie, wie er versichert, gegen Schwächere oder Muselmänner (Häftlinge, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden) einsetzte. Hierbei kam ihm seine Abstammung aus einem rauen Warschauer Arbeiterviertel zugute: Er war schon in seiner Kindheit in Raufereien involviert.

Geholfen zu überleben hat ihm zudem sein Repertoire an lustigen und anrüchigen Liedern und Witzen aus der Warschauer Zeit, die er auf einer zunächst geborgten Mandoline zum Besten gab. So erwarb er unter den Häftlingen Sympathie.

Achtung brachte ihm sein Mut und seine Chuzpe ein, die er beim Organisieren von Lebensmitteln bewies. Hätte ihn die SS dabei erwischt … Krematorium. Er verteilte die stibitzten "Lebensmittel" teilweise an Mithäftlinge. Einem Pfarrer sicherte er so – und mit vielen Ratschlägen – das Überleben. Zum Dank schickte ihm dieser, nach der Freilassung, jahrelang Pakete, die Grzesiuk – und Mitgefangenen – das Überleben sicherten. Und er bekam eine eigene Mandoline.

Ab 1943 verbesserten sich die Zustände, kollektive Strafaktionen wurden weniger brutal, die Häftlinge durften größere Pakete von Familie und Bekannten empfangen. Das hatte weniger – oder nichts – mit plötzlich einsetzender Humanität der SS zu tun als mit pragmatischen Gründen: Ab diesem Zeitpunkt entstand ein Ring von mehr als 40 Nebenlagern in der ganzen Ostmark und die Häftlinge, die zuvor zur Vernichtung nach Mauthausen und Gusen gekommen waren, wurden für die Produktion von Kriegsmaterial verwendet.

Viele Blockälteste hielten sich einen Schwung – also einen jungen Häftling, der für sexuelle Dienste besseres Essen und Kleidung erhielt. Auch unter Häftlingen gab es sexuelle Beziehungen. Einer antwortete auf die Frage nach dem Warum: "Was schadet es mir, schließlich macht er mir kein Kind." Auch Grzesiuk verhehlt nicht, dass ihm als ein Prominenter, also besser gestellter Häftling, junge Männer zu gefallen begannen.

Gemordet, geschlagen und vernichtet wurde indes ohne Unterlass, bis er eines Tages – die SS war bereits geflohen – die Worte hörte: "Einer ist schon da!" Dann sah er, wie ein amerikanischer Panzer durch das Tor von Gusen kam. "Die Freiheit! … Als ich den Panzer sah, verlor ich das Gefühl von Wirklichkeit. Mir wurde schwindelig … ich spürte, dass mir die Tränen hinunterliefen – und ich schrie. Ich schrie, was meine Lungen hergaben … Das war der 5. Mai 1945, siebzehn Uhr. An diesem Tag vollzogen die Häftlinge noch an den Verbrechern, die das Leben anderer Häftlinge auf dem Gewissen hatten, Selbstjustiz. Am nächsten Tag gingen wir nach Linz und am 9. Juli 1945 bin ich nach Polen zurück."

 

Das Lager hat er überlebt – aber nicht lange. Er starb 1963 mit nur 44 Jahren an den Folgen einer Lungentuberkulose, die er sich im Lager zugezogen hatte. Sein Charme und seine Raubeinigkeit machten ihn zu einem der beliebtesten Humoristen Polens.

Stanislaw Grzesiuks Erinnerungen geben einen schockierenden Einblick in das Repertoire der menschlichen Grausamkeiten – wie Menschen dazu getrieben werden, Mitmenschen zu vernichten, oft nur für einen Bissen Brot. Und doch findet sich Menschlichkeit in seinen Erzählungen, lassen einen schmunzeln, aber nur so lange, bis es einem durch die nächste Grausamkeit einfriert.

Demütig geworden stellt man dieses Buch ins Regal. Die Linzer Gerichtspsychologin Heidi Kastner fällt einem ein. Vor kurzem hat sie im Zusammenhang mit NS-Verbrechen in den OÖN gesagt: "Bilden wir uns nicht ein, wir wären ach so gereift und glauben ‚das könnte nie mehr …‘ Das ist Gewäsch! Der Mensch als beileibe nicht nur positiv agierendes Wesen hat sich in den vergangenen 75 Jahren von seiner Biologie her nicht geändert …"

 

Buch und Autor: Vor wenigen Wochen erschienen, schon in der zweiten Auflage: Stanislaw Grzesiuk "Fünf Jahre KZ", New Academic Press, 487 Seiten, 29,90 Euro.

Grzesiuk (6. Mai 1918–21. Jänner 1963) ging nach dem Überfall Deutschlands auf Polen in den Widerstand – er wurde verhaftet und zunächst nach Dachau gebracht.

90.000 Tote: Mehr als die Hälfte der mindestens 71.000 Menschen, die in Gusen inhaftiert waren, wurden ermordet. Insgesamt waren im KZ Mauthausen und seinen rund 40 Nebenlagern 190.000 Menschen in Haft. Mindestens 90.000 Menschen wurden ermordet.

 

 

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Autor
Manfred Wolf
Ressortleiter Lokales
Manfred Wolf

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