Ein sensibler Chronist des "American Way of Life"
Jeffrey Eugenides legt mit "Das große Experiment" eine tolle Geschichtensammlung vor.
Zu den bedauerlichen Phänomenen des Literaturbetriebs gehört, dass Leserinnen und Leser viel lieber zu Romanen greifen als zu kürzeren Erzählungen. Umso lobenswerter ist es, wenn sich ein Autor trotzdem nicht davon abhalten lässt, dieser kleineren epischen Form viel Sorgfalt zu widmen.
Der US-amerikanische Schriftsteller Jeffrey Eugenides wurde weltweit mit seinem Roman "Middlesex" (2003) bekannt, für den er unter anderem den Pulitzer-Preis erhalten hat. Jetzt ist bei Rowohlt eine Sammlung hervorragender, inhaltlich dichter Erzählungen erschienen, die der Autor in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hat.
Scheinbar freie Menschen
Jeffrey Eugenides erweist sich mit diesem Buch wieder einmal als genauer Beobachter und sensibler Chronist des American Way of Life. Es geht in den insgesamt zehn Geschichten um Lebenswege, die Menschen beharrlich weiterverfolgen, obwohl diese offensichtlich in Sackgassen führen ("Alte Musik"), um Lebensträume, an denen die Träumer hartnäckig festhalten, obwohl deren schwache Fundamente nicht mehr halten ("Air Mail").
Eugenides’ Figuren treffen scheinbar beiläufig Entscheidungen, deren schwerwiegende Folgen erst später erkennbar werden, oder geraten ahnungslos in verhängnisvolle Verstrickungen ("Nach der Tat"). In der Erzählung "Die Bratenspritze" entlarvt Eugenides das technische Machbarkeitsdenken unserer Zeit, die Selbsttäuschung des scheinbar freien, autonomen Menschen, der auch seine Fortpflanzung kulturell inszenieren und nach Belieben steuern will. Die Erzählung "Launische Gärten" wiederum ist ein raffiniertes erotisches Kammerspiel für zwei Männer und zwei Frauen, in dem auch der Handlungsraum zum entscheidenden Mitspieler wird.
Großartig gestaltet ist die Titelgeschichte. Dass man mit kulturellen Leistungen oft nicht zu Wohlstand kommen kann, ist nicht nur ein amerikanisches Phänomen. Ein hoch qualifizierter, aber miserabel bezahlter Lektor, der an einer Tocqueville-Ausgabe arbeitet, lässt sich von seinem beruflichen Frust dazu verleiten, seine materielle Situation durch höchst unlautere Finanzmanipulationen zu verbessern.
Und plötzlich liest man die Tocqueville-Zitate aus dem 19. Jahrhundert wie kritische Kommentare zur sozialen Lage des amerikanischen Prekariats im 21. Jahrhundert.
"Das große Experiment" ist eine gute Gelegenheit, der Erzählung wieder einmal die Lektürechance zu geben, die sie verdient.
Jeffrey Eugenides: "Das große Experiment", Erzählungen, aus dem Englischen von Gregor Hens, Rowohlt, 332 Seiten, 22,70 Euro
OÖN Bewertung: