Das Beste in der Pfanne: John Irvings neuer Roman
Das Streben nach Liebe, die Angst vor Verlusten und der Kreislauf der Gewalt sind die Themen, derer sich der große amerikanische Erzähler John Irving in seinem zwlften Roman annimmt. „Letzte Nacht in Twisted River“ schließt nahtlos an Meisterwerke wie „Owen Meany“ und „Garp und wie er die Welt sah“ an.
Was eine gusseiserne Pfanne alles anrichten kann! Essen ist das eine. In der Hand des 12-jährigen Danny, Sohn des Kochs Dominic in einem Flößer- und Holzfällercamp in New Hampshire, löst sie im Jahr 1954 eine Tragödie aus.
Im Finstern schwingt sie der Bub gegen den Schädel eines Bären, der über seinen schlafenden Vater hergefallen ist. Der tödliche Ausgang des Pfannenhiebes wäre nicht weiter schlimm gewesen, wäre der Bär nicht die wuchtige indianische Abwäscherin beim intimen Nahkampf mit Dominic gewesen, und überdies die verprügelte Geliebte des unberechenbaren, sadistischen Sheriffs.
Für Danny und Dominic beginnt eine fünf Jahrzehnte währende Flucht durch den Nordosten der USA und schließlich nach Kanada, verfolgt von einem Rächer und der Angst, jene zu verlieren, die man am meisten liebt.
Auf 730 Seiten holt John Irving auch jene Anbeter zurück, die sich seit „Witwe für ein Jahr“ (1998) nach einer literarischen Ersatzreligion umgesehen hatten. Für „Letzte Nacht in Twisted River“ verwendet der 68-Jährige die besten Zutaten aus seiner Schreibküche: maßloser Erfindungsgeist, magische Erzählkunst, schräge Figuren, skurrile Begebenheiten, groteske Wendungen. Und obwohl uns die Ingredienzen bekannt sind, rührt sich kein schaler Nachgeschmack von Aufgewärmtem.
So wie Koch Dominic in den kulinarischen Zufluchtsstätten sein Handwerk mit raffinierten Rezepten, anderen Methoden und fremden Einflüssen verfeinert, hat auch Irving frische Würze gefunden.
Die vielen Stationen von Danny und Dominic spielen ihm die Möglichkeit in die Hand, immer wieder einen neuen Kleinkosmos zu schaffen, in dem sich Figuren und ihre Geschichten tummeln. Einige sind für das große Ganze relevant, andere tauchen auf und verflüchtigen sich. Nur einer hält alles zusammen, der grobschlächtige, aber herzenswarme Weggefährte Ketchum, ein alter Holzfäller, der über das flüchtende Duo seine schützende Hand hält und uns mit seinen derben Redewendungen begleitet: „Lass dir deswegen keine krummen Eier wachsen“ gehört zu seinen liebsten.
Irving legt Köder aus
Als erzählerische Finte erweisen sich Irvings Kapitelsprünge über viele Jahre. Er konfrontiert uns mit einer Gegenwart, reißt etwas Passiertes an, um dann in der Zeit wieder zurückzublenden, um aufzurollen, wie es dazu kam. Das funktioniert wie ein Cliffhanger am Ende einer Serie: Der Köder ist ausgelegt, wir haben davon gekostet und können nicht warten, bis wir endlich den kompletten Happen im Schlund haben.
Das Kaleidoskop an Nebenfiguren ist bunt, von der hünenhaften Lady Sky, die für eine Party nackt mit dem Fallschirm abspringt und in der Suhle von Schweinen landet, bis zur üppigen Six-Pack Pam, deren Trinkvermögen im Spitznamen steckt. Und natürlich webt der Autor politischen Stoff in die Handlung, von Vietnam bis zum 11. September 2001 und Bushs Irakkrieg: Gewalt, die zu Gegengewalt führt.
Danny erhebt Irving zu seinem Alter Ego, indem er ihn zum Schriftsteller entwickelt, der das Buch im Buch entstehen lässt. Danny philosophiert über das Schreiben, über das Verschmelzen von Phantasie und Biographie, über seine Arbeitsweise, ein Werk mit dem letzten Satz zu beginnen. Wer die Person John Irving bisher nicht kannte, lernt ihn in diesem prächtigen Roman kennen.