„Sie haben Lektionen über sich selbst gelernt“
Im Film des gebürtigen Linzers Micha Shagrir bereisten Jugendliche aus Israel Wege von NS-Flüchtlingen in Europa.
1937 wurde Micha Shagrir in der Linzer Bischofstraße geboren. Wenige Monate später flüchtete seine Familie vor dem NS-Regime nach Israel, wo Shagrir später zur Kultfigur in der Filmszene aufstieg. Mit Regisseur Meni Elias zeigt der Produzent seine neue Doku „Ha Bricha“ (Sa., 14 Uhr, Movie 3) beim Crossing Europe Filmfestival.
OÖNachrichten: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute wieder durch die Bischofstraße gehen?
Micha Shagrir: Linz ist kein Zuhause, das ich verloren habe oder vermisse. Ich habe keinen Hass, keine Bitterkeit, ich bin vor allem am Geschehen interessiert.
Was hat Sie inspiriert, „Ha Bricha“ („Flucht“) zu drehen?
Meni Elias: Wir drehten 2009 einen Film über äthiopische Juden, die zu Fuß über den Sudan nach Israel wanderten. Einer der Begleiter erzählte uns, dass sie in der Wüste nicht mehr wussten, für welchen Weg sie sich an einer Gabelung entscheiden sollten. Sie spuckten auf den Boden und schauten, wo das meiste davon landete, dort gingen sie. Ein anderer, israelischer Begleiter sagte dann: „Wow, dieselbe Geschichte erzählte mir mein Vater, als er vor den Nazis durch einen Wald flüchtete.“ Sie warfen einen Stein und nahmen jenen Weg, an dem der Stein näher landete.
Überraschte es, wie leicht die Jugendlichen zusammenfanden?
Shagrir: Die acht kamen von unterschiedlichen Orten aus dem ganzen Land. Bei uns gab es tiefgründige Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Israeli, der Christ und Araber ist, einem orthodoxen, jungen Mann, dessen Vater ein berühmter, interessanter Rabbi war, einem Burschen, der aus der obersten Gesellschaftsschicht stammt, und einem jungen Emigranten aus Kasachstan. Aber der Weg, wie sie sich begegneten, war voll Willen, sich gegenseitig anzuhören. Das konnten wir nicht erwarten, aber es passierte. Wir möchten eine Fortsetzung mit Szenen drehen, die die Gruppe noch offener zeigt, und sie in Schulen in Israel, Österreich und Polen zeigen, weil die jungen Menschen das wichtige Publikum sind.
Was haben sich die Jungen für ihr Leben mitgenommen?
Shagrir: Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mit tiefen Eindrücken heimgereist sind, dass sie mehr von der Rolle Europas während des Zweiten Weltkrieges verstehen. Was aber wichtiger ist: Sie haben Lektionen über sich selbst gelernt.
Wie stark fühlten Sie etwa, als Sie in Ebensee waren, wo es früher ein KZ gab, dass Sie einen geschichtsträchtigen Ort betraten?
Elias: Wenn du gehst und filmst, kannst du fühlen, wie viele Menschen hier marschiert sind. Ich fühlte mich nicht sehr wohl dabei.
Sie sagten, Sie würden verstehen, dass ältere Menschen in Österreich nichts mehr über den Holocaust hören wollen. Warum?
Shagrir: Es ist interessant, dass sie nicht darüber reden wollen, weil sie entweder Täter waren oder auf der anderen Seite standen. Aber: Redet! Es wird helfen. Man fühlt sich besser, versteht mehr über sich selbst, und andere verstehen mehr von der Geschichte.
Micha Shagrirs Linzer Familiengeschichte
Die Familie von Micha Shagrirs Großvater, Benedict Yiskakar Schwager, wohnte in der Bischhofstraße Nr. 7. In derselben Straße lebte die Familie von Adolf Eichmann, der für die Auslöschung der Juden zuständig war. Micha Shagrirs Vater, der im 1. Weltkrieg für Österreich gekämpft hatte, verließ nach dem Studium 1920 Österreich und arbeitete in Palästina in der zionistischen Bewegung. Er kämpfte später im spanischen Bürgerkrieg für die Antifaschisten. Er kam ins Gefängnis. Ein Schulkollege und Gestapo-Mann entdeckte ihn auf der Liste politischer Gefangener, 1938 verschaffte er Shagrirs Familie eine Ausreisegenehmigung.