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Normal - Wer ist schon normal?

16. Dezember 2011, 12:00 Uhr
Normal ? Wer ist schon normal

„Der ist doch nicht normal.“ Abfällige Aussagen wie diese kommen einem schnell über die Lippen. Doch auffälliges Verhalten lässt keineswegs zwangsweise auf eine psychische Störung schließen.Jemand spricht laut mit sich selbst; jemand ist auffallend gekleidet; gestikuliert ungewöhnlich im öffentlichen Raum oder kommt regelmäßig zu spät. All das mag sonderbar erscheinen oder auch ärgerlich sein für Familie, Kollegen oder Freunde, aber zum Problem wird es erst, wenn das Verhalten das soziale Umfeld verunsichert oder gar ängstigt.

Uniformiertheit bereits in der Kindheit

Der Zwang zur Uniformiertheit beginnt sehr früh. „In der Schule, aber auch schon im Kindergarten diktieren Modetrends, wie man auszusehen hat“, sagt Dietmar Dobretsberger, Psychotherapeut und Geschäftsführer von EXIT-sozial, einem Verein für psychosoziale Dienste, der Menschen mit psychischen und sozialen Problemen unterstützt. Auch Mobbing in der Schule ist ein weit verbreitetes Problem. Verfügt ein Jugendlicher über weniger Geld als der Durchschnitt, hat er weniger coole Klamotten, ist er körperlich schwächer oder dicker als die anderen, dann setzt das Hänseln sehr schnell ein. Die Kinder geraten in die Außenseiterrolle, werden sozial herabgestuft und ausgegrenzt.
Auch die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder hat sich zunehmend an genaue Zeitvorgaben zu richten. Verzögerungen in der Entwicklung werden heute rasch bemerkt und Eltern mit der (angeblichen) Notwendigkeit von Förderprogrammen konfrontiert. „Dabei sind verschiedene Geschwindigkeiten in der Entwicklung völlig normal und man sollte nicht alles sofort ins behandlungsbedürftige Eck schieben, sondern den Kindern die Zeit geben, die sie brauchen“, sagt Dobretsberger.

Ausgrenzung bei Jobverlust

Auch Erwachsene stehen unter dem Druck, sich von der Norm nicht negativ abzuheben. „Sehe ich anders aus, verhalte ich mich anders als die Menschen in meiner Umgebung, dann bin ich schnell draußen aus der Gemeinschaft“, so der Psychotherapeut. Ein Paradebeispiel ist die Arbeitslosigkeit. Der Verlust des Jobs bedeutet nicht nur einen Verlust an Geld und Ansehen, sondern auch das Wegfallen von sozialen Bindungen. Ehemalige Arbeitskollegen werden zu Fremden, auch Freunde ziehen sich zurück. Die Kontakte werden immer weniger und schließlich ziehen sich auch die Betroffenen zurück und beginnen zu vereinsamen.
„Man darf durchaus Eigenheiten haben, allerdings nur, wenn diese als positiv gelten. Wenn sich jemand nicht so verhält, wie es üblich ist und erwartet wird, wenn man negativ auffällt oder seine Leistung nicht mehr erbringen kann, dann baut die Gesellschaft schnell großen Druck auf, sich der Norm gemäß zu verhalten“, kritisiert Dobretsberger.

Scheinwelten verursachen Probleme

Reality-TV und Castingshows dagegen suchen das Außergewöhnliche, hier kommen Menschen abseits der Norm zum Zug. „Diese TV-Formate tragen aber keineswegs dazu bei, dass man diese Menschen, die man im Fernsehen bewundert, im realen Leben auch tatsächlich schätzt. Im Gegenteil. Nach diesen Shows haben die Leute oft große Probleme. Solche Outings tun im richtigen Leben nicht gut“, warnt Dobretsberger.

Hilfe annehmen

Menschen suchen Hilfseinrichtungen wie EXIT-sozial auf, weil es ihnen psychisch schlecht geht. Sie fragen sich, ob sie depressiv sind, ob sie versagt haben im Leben. Ihrem Umfeld verheimlichen sie oft ihre Probleme; kaum einer gibt zu, dass er sich psychisch krank fühlt. Mit körperlichen Krankheiten wird immer noch viel offener umgegangen als mit psychischen.
Positiv sei es, dass viele Betroffene wenigstens im Betreuungsgespräch immer offener über ihre psychischen Leiden sprechen und heute früher als bisher professionelle Hilfsangebote nutzen. „Die Ursachen für die Probleme liegen im stetigem Leistungsdruck, im Auflösen sozialer Bindungen und dem ständigen medialen Propagieren von Schönheits- und Glücksversprechen, die natürlich unerfüllbar bleiben“, sagt Dobretsberger.

Umerziehen funktioniert nicht

„Wenn man sich sorgt, dass der Partner oder ein Freund psychisch erkrankt sein könnte, dann ist es das Beste, sich Klarheit zu verschaffen und eine psychosoziale Beratungsstelle oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen“, sagt Dobretsberger. Wesentlich weniger erfolgreich seien hingegen Versuche, den anderen umerziehen zu wollen. Besser sei es, Eigenheiten – die der anderen, wie auch die eigenen – mit wachsender Gelassenheit zu akzeptieren, wodurch Probleme an Bedeutung verlieren würden.
Auch wenn sich eine vermeintliche Eigenheit als psychische Störung herausstellt, sei das kein Grund, diese Beeinträchtigung in den Mittelpunkt der Beurteilung der Person zu stellen. „Viele bekannte Menschen leben mit einer psychischen Erkrankung und niemand nimmt daran Anstoß“, so Dobretsberger. Es sei für alle besser, die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und nicht das (vermeintliche) Gebrechen.

Eigenheiten werden zu Störungen und Krankheiten stilisiert

Bei auffälligem Verhalten stellt sich rasch die Frage, ob dies noch normal oder doch schon krankheitswertig ist. Was in früheren Jahrzehnten oft als Eigenheit („Spinnerei“, „Sonderling“) beurteilt wurde, wird heute oft als psychische Störung untersucht und diagnostiziert. Ein Grund hierfür sind die Klassifikationssysteme für psychische Störungen, die regelmäßig erweitert werden. Hier steht geschrieben, wo Normalität aufhört und psychische Störungen anfangen. Es wird etwa festgelegt, was noch Trauer ist und was schon eine Depression, oder wie temperamentvoll ein Kind sein darf, um noch als normal zu gelten.
Psychische Leiden sind real und Betroffene brauchen Hilfe. Doch Menschen, die bloß in einer Lebenskrise stecken, die trauern oder impulsiver oder einfach „anders als der Durchschnitt“ sind, müssen davor bewahrt werden, als krank zu gelten. Durch eine ständige Ausweitung der Kriterien, was als behandlungsbedürftig eingestuft wird, werden immer mehr Patienten geschaffen. Kritiker dieser Vorgehensweise warnen, dass es bald für niemanden mehr möglich sein wird, ohne eine oder mehrere geistige Störungen durchs Leben zu kommen. „Nicht jede Abweichung vom so genannten Normalen ist gleich ein Symptom für eine psychische Erkrankung“, sagt Dobretsberger.

Dr. Thomas Hartl
Dezember 2011

Foto: Bilderbox

 

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