100 Jahre B-VG: Gesetze könnte doch auch das Volk beschließen. Oder?
Erst vor wenigen Wochen haben wieder mehrere Volksbegehren die 100.000-Unterschriften-Marke überschritten.
Sie haben damit die in der Bundesverfassung normierten Voraussetzungen erfüllt. So haben etwa 380.590 wahlberechtigte Staatsbürger unter Angabe ihres Namens und mit ihrer Unterschrift das Klimavolksbegehren unterstützt.
Die Umsetzung ihrer Forderung hat die Bevölkerung aber nicht mehr selber in der Hand. Zwar geht nach Artikel 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) das Recht vom Volk aus. Für ein entsprechendes Gesetz ist aber ein Beschluss des Nationalrats notwendig. "Eine Bindung an den bei einem Volksbegehren geäußerten Willen gibt es nicht", sagt Andreas Janko, JKU-Professor und stellvertretender Institutsvorstand. Gegen den Bau des Wiener Konferenzzentrums sprachen sich 1982 1,35 Millionen Wahlberechtigte aus – gebaut wurde es dennoch.
Diese Situation empfinden viele als unbefriedigend. Seit Jahren kursieren Vorschläge, Volksbegehren ab einer bestimmten Größenordnung zwingend einer Volksabstimmung zu unterziehen. Ein positiver Ausgang solle dann zu einer Bindung des Nationalrats oder gar zu einem Gesetz "am Parlament vorbei" führen.
Volksabstimmungen sind seit 100 Jahren im B-VG vorgesehen. Gegenstand der Abstimmung kann aber nur ein Beschluss des Nationalrats oder des jeweiligen Landtags sein. "Nur bei einer Gesamtänderung der Bundesverfassung muss der Parlamentsbeschluss dem Bundesvolk zwingend zur Annahme vorgelegt werden", sagt Janko. So eine Änderung habe es in der Zweiten Republik aber erst einmal gegeben: im Zusammenhang mit Österreichs EU-Beitritt 1995.
Bei der direkten Demokratie herrscht also Zurückhaltung. Das ist laut Janko kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung der Verfassungsväter. Vor allem die Sozialdemokraten hätten Bedenken wegen des zu geringen Bildungsniveaus breiter Bevölkerungsschichten und Sorge vor populistischen Tendenzen gehabt.
Die Defizite sind 100 Jahre später weitgehend überwunden. Die Befürchtung, dass populistische Gruppierungen die Möglichkeit einer Gesetzgebung am Parlament vorbei missbrauchen könnten, sei jedoch nach wie vor gegeben.
Viele politische Fragen sind außerdem zu vielschichtig, um einfach mit "Ja" oder "Nein" beantwortet zu werden. Das Entweder-oder-Schema eines Referendums lasse auch keinen Raum für Kompromisse.
Laut Janko fehlt es in Österreich, im Unterschied zur Schweiz, an der Erfahrung mit direkt-demokratischen Entscheidungsprozessen. Einerseits müssten die politisch Verantwortlichen objektiv formulieren und die Entscheidungsgrundlage aufbereiten. Andererseits müsse sich die Einstellung der Abstimmenden ändern: vom Fokus auf Individualinteressen hin zu einem Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl. "Das kann durch Übung gelernt werden", sagt Janko; am besten zuerst bei überschaubaren Themen, etwa auf kommunaler Ebene.
Auf Grundlage der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs sei jedenfalls davon auszugehen, dass ein Wandel hin zu mehr direkter Demokratie eine Gesamtänderung der Bundesverfassung wäre – und damit die Zustimmung des Volks durch eine Volksabstimmung bräuchte. (prel)
Anlässlich 100 Jahre B-VG erklärt diese Serie, welche Rolle die Verfassung in unserem täglichen Leben spielt. Andreas Janko und Michael Mayrhofer begleiten die Serie als Experten.
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