Das Urkilo wird abgelöst und erneuert
Weil das alte Kilogramm an Schwindsucht leidet, wird es neu definiert – alles andere als eine leichte Sache.
Ab 20. Mai gibt es ein neues Kilogramm. Das alte Kilo ist nämlich in die Jahre gekommen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Seit 1889 liegt das weltweite Referenzmaß für das Kilogramm in Form eines kleinen Zylinders aus einer Platin-Iridium-Legierung gut geschützt unter drei Glasglocken im Tresor des Internationalen Büros für Maß und Gewicht (BIPM) im Pariser Vorort Sèvres. Sämtliche Waagen auf dem gesamten Globus sind über Umwege auf dieses eine exemplarische Kilogramm (Internationaler Kilogramm-Prototyp) geeicht, und so lautet die entsprechende Definition des Kilogramms auch nicht wenig überraschend: „Das Kilogramm ist gleich der Masse des Internationalen Kilogramm-Prototyps.“
Allerdings gibt es da ein Problem: Das schöne Referenz-Kilogramm leidet sehr wahrscheinlich unter Schwindsucht. „Im Vergleich mit anderen identischen Prototypen, die zur selben Zeit mit der gleichen Masse hergestellt und poliert wurden“, meint Ian Mills, Präsident des Beratenden Komitees für Einheiten am BIPM, „betragen die Abweichungen in den vergangenen 100 Jahren ganze 50 Mikrogramm, vielleicht sogar 100 Mikrogramm.“ Ganz exakt können die Experten das nicht einmal sagen, denn rein theoretisch könnte es ja auch sein, dass mit dem Urkilogramm alles in Ordnung ist und Dutzende von Kopien auf der ganzen Welt allesamt zugenommen haben – auch wenn das eher unwahrscheinlich ist.
Ein paar Mikrogramm weggeputzt?
Damit aber nicht genug: Keiner weiß, warum das Urkilogramm abweicht, niemand kennt die Ursache, auch die Physiker vom BIPM nicht. Vielleicht wurden im Laufe der Jahre beim Reinigen immer mal wieder ein paar Mikrogramm abgeputzt, wer weiß? Aber auch das ist Fachleuten zufolge eher unwahrscheinlich.
Das eigentliche Problem ist nun ein paradoxes: Das Urkilogramm wiegt per definitionem immer exakt ein Kilogramm – egal wie schwer es ist. In unserer heutigen Hightech-Welt geht so etwas natürlich gar nicht. Im Internationalen Einheitensystem (SI) ist das Kilogramm dann auch die einzige Basiseinheit, die bis heute über einen konkreten Vergleichsgegenstand (Prototyp) dargestellt wird.
Und genau das ist das Problem – da sind sich die Experten einig. Nicht auszudenken, das schöne Referenzmaß könnte verloren gehen oder fiele beim Reinigen einfach mal zu Boden. Ähnliche Schwierigkeiten gab es früher übrigens auch schon beim Urmeter, das ebenfalls ein ganz konkreter Vergleichsgegenstand war – nämlich ein Platin-Iridium-Stab, der im Tresor des BIPMs lagerte – und ebenfalls durch versehentliches Fallenlassen nicht besser geworden wäre. Aus diesen und anderen Gründen wurde das Urmeter dann auch schon vor Jahren neu definiert, und zwar so, dass Putzen oder Fallenlassen ihm nichts anhaben können. Für diesen Zweck bieten sich unveränderliche Naturkonstanten besonders an, eben weil sie unveränderlich sind, die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beispielsweise, die Avogadro-Konstante oder auch das Planck’sche Wirkungsquantum.
Der Teufel steckt im Detail
Beim Meter entschieden sich die Experten für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, und somit ist der Meter heute definiert als „die Länge der Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299792458 Sekunden durchläuft“. Ähnliches haben die Forscher nun auch mit dem Kilogramm vor. Der Teufel steckt aber wie so oft auch hier wieder einmal im Detail, denn ganz so einfach ist die Sache nicht. Nur zwei Projekte haben sich in dem gesteckten Zeitrahmen (bis zum Stichtag 1. Juli 2017) mit der geforderten Genauigkeit als erfolgreich erwiesen: das so genannte Avogadro-Projekt der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig (PTB) und ihrer Partner sowie die Watt-Waagen-Experimente internationaler Forscher.
Ein bisserl Verzählen ist erlaubt
Auch wenn es sich vielleicht so anhören mag, mit tropischen Südfrüchten hat das Avogadro-Projekt rein gar nichts zu tun. Hierbei zählen die Forscher nämlich vielmehr, wie viele Atome eines bestimmten Isotops (Silizium-28) exakt ein Kilogramm ergeben. Dazu bestimmen die Wissenschafter mit Hilfe von höchst präzisen Messinstrumenten, wie viele Atome in einer perfekten Silizium-Kugel enthalten sind – und zwar nicht nur so ungefähr, sondern mit einer Genauigkeit von zwei mal zehn hoch minus acht. Das heißt: Die Experten dürfen sich maximal um zwei Atome pro 100 Millionen verzählen.
„Der eigentliche Punkt ist dabei“, sagt Jens Simon von der PTB, „dass ein Brückenschlag gelingt zwischen einer großen makroskopischen Masse – also etwas, das man auf eine Waage legen kann – und dem Mikrokosmos der Atome – wobei jedes Atom eine unveränderliche Masse hat.“ Die Verbindung zwischen Atomwelt und Makrokosmos schafft nun die so genannte Avogadro-Konstante (festgelegt als 6,02214076 mal zehn hoch 23 Teilchen pro Mol), weil sie angibt, wie viele Atome in einem Mol enthalten sind. Mit anderen Worten: „Wenn man ganz reines Silizium der Sorte Si-28 nimmt (wie es in den Silizium-Kugeln der PTB steckt), dann bringt eben diese Anzahl an Si-28-Atomen 28 Gramm auf die Waage“, sagt Simon.
Die Watt-Waagen-Experimente
Außer dem Avogadro-Projekt waren auch die Watt-Waagen-Experimente internationaler Forscher erfolgreich, sodass auch deren Ergebnisse für die Neudefinition des Kilogramms zur Verfügung stehen, die auf der Internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Versailles im Herbst 2018 verabschiedet wurde und am 20. Mai 2019 offiziell in Kraft tritt. Vereinfacht gesagt, wird bei der Watt-Waage ein Kilogramm mittels einer elektromagnetischen Kraft sozusagen aufgewogen. Die dafür notwendige elektrische Leistung (in Watt, daher der Name) lässt sich präzise messen. Nun kann das Kilogramm bei festgelegtem Wert des Planck’schen Wirkungsquantums (festgelegt als 6,62607015 mal zehn hoch minus 34 Joulesekunden) definiert werden. Das Ganze hört sich übrigens einfacher an, als es ist.
Aber das war beim Kilogramm ja schon immer so.
Das Ur-Kilo wird abgelöst, nicht das Urkilo!