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"Vor dem Gesetz": Anna Baars Rede zur Eröffnung des Brucknerfests

10. September 2023, 13:00 Uhr
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Autorin Anna Baar Bild: JOHANNES PUCH

Die vielfach ausgezeichnete Autorin Anna Baar hielt am Sonntag die Festrede zur Eröffnung des Internationalen Brucknerfestes Linz mit dem Titel "Vor dem Gesetz". Ihre Rede im Wortlaut.

Sehr geehrte Festgäste,

1820 schrieb Abraham Mendelssohn an seine fünfzehnjährige hochmusikalische Tochter, die Musik werde für Felix, seinen elfjährigen Sohn, möglicherweise „Beruf“. Ihr aber solle sie stets nur zur „Zierde“ gereichen. Dem Bruder wären daher Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis „eher nachzusehn“, während es die Schwester „nicht weniger“ ehre, sich „gutmüthig und vernünftig“ an seinen Erfolgen zu freuen. Solche Freude beweise, dass sie sich den Beifall selbst „verdienen“ könnte, wäre sie „an seiner Stelle“: „Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.

Fanny Mendelssohn, bekannt als Fanny Hensel, war ebenso begabt wie Felix, ihr jüngerer Bruder. Einige ihrer mehr als 400 Kompositionen erschienen zu ihren Lebzeiten unter seinem Namen. Es ziemte sich damals nicht für Frauen ihres Standes, den eigenen Namen unter ein musikalisches Werk zu setzen. Erst kurz vor ihrem Tod mit 41 Jahren ließ sie einige Lieder als eigene Werke drucken – gegen den Willen der Familie. Wie die meisten Töchter schlug auch ich mich herum mit den Erwartungen derer, die nur
mein Bestes wollten. Der Vater hätte mich am liebsten als Pianistin auf der Bühne bewundert. Die Jahre am Konservatorium und später im Musikzweig eines Stiftsgymnasiums, wo ich im Chor sang und mehr schlecht als recht komponierte, erwiesen sich aber als müßig. „Talentiert, aber faul“, lautete das Urteil. Dass ich trotz meines Scheiterns auf einer Musikbühne stehen darf, ehrt mich ganz besonders, wie Sie sich vorstellen können.

Aber was erzählen angesichts der Losung des heurigen Internationalen Brucknerfestes Linz? Das „Ewig-Weibliche“ – es reizt und irritiert mich. Und es steht mir nicht zu, die vielen Frauen zu nennen, deren Talent veruntreut oder vergeudet wurde. Ich weiß zu wenig von ihnen. Musik und andere Künste waren in meiner Wahrnehmung lange Männersache. Frauen gab es auch, als Sängerinnen, Musen oder eben „Groupies“ – und wenn eine komponierte, dichtete oder malte, schien ihr Werk zumeist nicht sonderlich bedeutend.
Dass das Maß an Beachtung vom Geschlecht abhänge, konnte nur Vorwand sein. Schließlich bestimmten die wichtigsten Frauen meiner Kindheit, jeder Mensch könne alles, wenn er
ordentlich wolle. Sie waren beruflich gesettelt und wähnten sich Kollegen anscheinend ebenbürtig. Nebenbei den Haushalt und ein paar Kinder zu stemmen, galt als normal für Frauen, die arbeiten gehen wollten oder, wie es hieß, „dazuverdienen“ mussten. Eine Norm, für die ich viele Jahre später einen Namen fand: Clara-Schumann-Falle. 

Die findige Komponistin und Klaviervirtuosin schrieb 1839, gut ein Jahr vor der Eheschließung mit einem gewissen Robert, vom mühsamen Bestreben, „mit der Künstlerin die Hausfrau zu vereinigen“: „Meine Kunst lasse ich nicht liegen, ich müßte mir ewige Vorwürfe machen.“ Aber das schrieb sich leichter, als es nach der Heirat umgesetzt werden musste: Das Üben hatte Frau Schumann radikal einzuschränken, weil es den Ehemann bei der Arbeit störte. Als er zu schwächeln begann und sie, auch als mehrfache Mutter, mit ihren Konzerteinnahmen maßgeblich zum Unterhalt der Familie beitrug, fügte er sich ungern in die Rolle des unbedankten Begleiters. Er habe „über die Meisterin die Frau“ vergessen, notierte Robert Schumann grimmig in sein Tagebuch.

Mich gruselte es, als ich kneißte, dass es eine Funktion gab, die alle Frauen einte, ob beruflich erfolgreich, ob Meisterin oder Hausfrau: Sie verdingten sich – still und ehrenamtlich – als Zuarbeiterinnen der patriarchalen Herrschaft, die „unweibliches“ Verhalten mit Ächtung sanktionierte. Sie alle hatten die Herrschaftslogik so intus, dass ihnen gar nicht einfiel, sie zu hinterfragen. Sie kam ihnen eben normal vor. Auch dass sie, wie man so sagt, ein Auge aufeinander hatten – und wehe, wenn sich eine von ihnen mehr erlaubte! Ob das Patriarchat die Männer überhaupt brauchte?

Ich habe mich Geschlechterfragen bisher trotzig verweigert. Vielleicht, um nicht einzusehen, wie weit auch ich dem System unbewusst zuarbeite und in der vorschnellen Hoffnung, das alte Vorurteil, wonach im Körper mit Penis stets ein potenterer Geist haust, sei lange überwunden. Jetzt komme ich nicht umhin, derlei peinliche Fragen auseinanderzulegen, weil Sie vermutlich hier sind, um „Frauenmusik“ zu genießen. Falls Sie diesbezüglich allerdings mehr erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Für eine geschlechtsbedingte
„künstlerische Ader“ existieren bisher keinerlei Beweise. Wenn es also etwas Beachtenswertes gibt an nicht von gesunden, weißen, halbwegs bemittelten Männern fertiggebrachten oder interpretierten Werken, so ist es vor allem ihr Entstehen und insbesondere Bestehen unter erschwerten Bedingungen. Zwar gibt es Gleichstellungsgesetze, aber die patriarchalen Strukturen wirken weiter: Geschlechtsrollenzuschreibungen und Verhaltenserwartungen, kritischere Bewertung und geringere Entlohnung der geleisteten Arbeit
zementieren den altväterlichen Mahnruf, sich zurückzunehmen im Wettkampf um Macht und Einfluss. Mendelssohn senior lässt grüßen – auch 200 Jahre später. 

Vor bald einem Jahrhundert ermaß Virginia Woolf im Essay A Room of One’s Own die Entstehungsbedingungen schöpferischer Arbeit und die Beengung von Frauen: Um Werke zu
erschaffen, bräuchte man nämlich Geld und ein eigenes Zimmer. Verstehen wir das Zimmer bitte auch als Metapher für ideellen Raum, den Grad der Ermöglichung – auch  gesellschaftspolitisch! Und nehmen wir die Frau stellvertretend für alle sexistisch motiviert in die Enge Gedrängten! Manche hierzulande wollen die mühsam errungenen Räume ja wieder zusperren. Aber davon später. Fragen Sie sich zunächst nach Ihrer persönlichen Haltung zum Schwerpunkt dieses Festes: Freut Sie der Frauenanteil – und, wenn ja, warum? Ist er Ihnen egal, weil Sie auf Geselligkeiten wie diese abonniert und eigentlich nur da sind, um wichtige Leute zu treffen und selbst gesehen zu werden? Halten Sie es für mutig, das „andere Geschlecht“ vor den Vorhang zu bitten? Bringt es Sie in Verlegenheit, beispielsweise weil in der Extraeinladung, so nötig Frauen sie haben, um gehört zu werden, eine Beschämung anklingt?

Die Frau ist nicht der Normalfall. Sexismus gedeiht auch in Kreisen, die sich aufgeklärt geben und Frauen ausdrücklich fördern oder sogar vorziehen. Die paternalistische Geste freundlicher Gönnerschaft schwächt die Position der scheinbar Unterstützten, stellt sie unter Verdacht, ihr Fortkommen nicht der Güte der Arbeit zu verdanken, sondern Steigbügelhaltern, die sie bezirzt haben muss – oder durch Sex entschädigt.
Anders beim männlichen Künstler. Obwohl die Netzwerkerei männlich konnotiert ist, scheint sein Erfolg natürlich. Da mag die „Künstlernatur“ dem konservativen Ethos noch so zuwiderlaufen: Als Projektionsfigur für die heimlichen Wünsche der pflichteifrig Angepassten darf er ehrgeizig sein, arrogant, geltungsbedürftig, exzessiv und triebhaft. Seine Arbeit darf dann sogar ziemlich schlecht sein, ohne dass ihm jemand die Publicity neidet.
Bemerkenswert obendrein: Der männliche Künstler darf seine Weiblichkeit leben. Betrachten wir die großen Genies der Kunstgeschichte, begegnen uns auffallend oft androgyne Wesen. Virginia Woolf erwähnte auch das in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein.

Es scheint, als brauche es zum großen Schöpfungsakt das Andere im Eigenen. Und meinte nicht Johann Wolfgang von Goethe das Gleiche, als er zu bedenken gab, dass unser Auge,
wäre es nicht „sonnenhaft“, die Sonne nicht erblicken könnte? Folgerichtig frage ich: Wäre das Weibliche nicht auch dem Mann immanent, wie könnte es ihn an- und sogar „hinan“ ziehen? Es wäre ein Irrtum zu glauben, das „Ewig-Weibliche“ sei reine Frauensache. Es ist davon auszugehen, dass Goethe darin vor allem die höhere Instanz sah, die alle Erdenwesen, unabhängig von genitalen Merkmalen, vollends in ihre Kraft setzt. Das weibliche Prinzip, genau wie das männliche, ist nur einer der Pole der Zweiheit eines jeden wohltemperierten Geistes, der zwischen beiden changiert, auch in Zwischentönen.

Stünden Künstlerinnen nicht jenseits geschlechtlicher Grenzen, sie litten mit Sicherheit an geistiger Zeugungsschwäche. Und wir alle hätten hier heute nichts zu suchen, weil es nichts zu sehen und nichts zu hören gäbe. Die Zweigeschlechtlichkeit aber wird Frauen meist abgesprochen. Von Kindesbeinen an sucht man ihnen das Männliche auszutreiben, jene natürliche, angeborene Kraft, die sie ergänzen würde, ebenbürtig machte. Auf dieser Beschneidung gründet die Pathologisierung als mangelhaftes und minderbegabtes Wesen.

Simone de Beauvoir nannte das „Ewig-Weibliche“ bezogen auf den Mythos von der geborenen Frau in den 1970er-Jahren eine gemeine Lüge. Man werde, bemerkte sie, nicht als Frau
geboren, sondern werde es im Laufe eines Lebens durch Aneignung von Attributen, die als weiblich gelten. 
Die Verstümmelung der Frau, die man nur für voll nimmt, solange sie sich bescheidet mit der zugefügten, schwer behindernden Halbheit, vernebelt man perfide durch magische Überhöhung ihres weiblichen Anteils. Die Idealisierung der biologischen Frau als rettende Repräsentanz des Edlen, Schönen und Guten, gipfelnd in der Verehrung der jungfräulichen oder selbstlos liebenden Mutter, beruht ja auf dem Konzept, ihr den Platz schmackhaft zu machen, den man ihr anweisen möchte.
Es gibt keinen „Penisneid“, sehr geehrte Herren; es gibt aber einen Phantomschmerz aufgrund der Kastration im unkörperlichen Sinne. Und obendrauf gibt es Häme, sobald sich eine Frau ihren Teil zurückholt. Amouren und Eskapaden, die man männlichen Künstlern augenzwinkernd nachsieht oder bewundernd neidet, werden bei ihr zum Scheitern einer Unbescheidenen am Manne umgedeutet. Bedenken wir Ingeborg Bachmann, deren Zugrundegehen vor nunmehr 50 Jahren heuer begangen wurde, als gäbe es etwas zu feiern: Was aus den Reverenzen besonders grell hervorsticht, sind die Männergeschichten.

Wir sind hier, um Frauen zu hören, während draußen die Rufe nach neuen starken Männern immer lauter werden ... Erlauben Sie mir daher ein paar steile Thesen zur Krise des Weiblichen und zu seiner Rettung!

Ein „Feminismus“, der das Weibliche nicht bewirbt als Okkasion für alle, wird dem Wortsinn untreu, wird Deckname eines Machtkampfs, der zur Konkurrenz ums Männliche verleitet, ihm zum Triumph verhilft – und zwar zum Schaden aller. Wo ihr nichts Einhalt gebietet, pervertiert die Männlichkeit. Man nennt sie dann gerne „toxisch“. Und ihr Gift ist tödlich. Männer, die Weibliches in sich unterdrücken müssen, flüchten sich in Räusche, prügeln, führen Kriege. Ihre Pendants sind „Weibchen“, die nur die Außenhülle an sich zur Geltung bringen und Gewalt oft dulden, oder „böse Mädchen“, die die Herrschaftsmythen so sehr verinnerlicht haben, dass sie der Logik ihrer Unterdrücker folgen, samt Machtmissbrauch und Mobbing. Solche Frauen sind richtig gute Kerle, sobald sie an der Macht sind, oft sogar die besseren. 

Wo der Vollbart hip ist, wird es ungemütlich. Wo Entgegenkommen, Erbarmen, Hilfsbereitschaft, Mitleid und Toleranz als sozialromantisch, naiv und versponnen gelten, verkommt die Welt zur Arena rücksichtslosen Eifers um Vorherrschaft und Ressourcen. Sehen Sie die Verlierer? Gehen Sie auf die Straße, schauen Sie in die Gesichter: Flüchtende allerorts, die sich kein anderes Asyl als ihren Touchscreen wissen, weil sie die Realität verängstigt, wütend macht oder zu Tode langweilt. Die Burschenherrlichkeit führt zum Verschwinden der Mitte, auch in politischer Hinsicht. In den Polterkammern und Kellern des „Ewig-Männlichen“ handelt man Menschenrechte als Privilegien für eigene Clubmitglieder. Und um das zu legitimieren, hetzen die Hehler auch noch gegen die Betrogenen: Junge, die in Panik vor der kommenden Zeit, die allein ihre sein wird, zu drastischen Mitteln greifen, schimpfen sie „Terroristen“. Leute, die sich im Strudel der medial forcierten Bedrohungsszenarien auf Abwegen Auskunft suchen, weil sie nicht
glauben können, was man ihnen vorsetzt, kanzeln sie ab als „Idioten“. Oder das Gelaber vom „Minderheitenterror“, wo jene um Würde ringen, die sie zu Minderen stempeln! 

Nicht diese Töne, Freundchen! Schluss jetzt mit dem Zündeln! Demokratie ist bekanntlich kein Mehrheitsdespotismus. Sie ist eine Lebensform, die alle Angehörigen eines Landes einschließt, mit Rechten und mit Pflichten. Und sie ist nur sinnvoll in einer Zivilkultur des wertschätzenden Umgangs.

Wir wollen eh alle das Gleiche: ein halbwegs gesundes Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Nur bringt man es nicht weit auf dem Rücken anderer, schon gar nicht auf Kosten derer, die sowieso weniger haben oder weniger dürfen. Wer sie als Feindbilder zeichnet, häufig unter dem Vorwand, sie würden die Sittlichkeit oder Kinder gefährden, gibt sie zum Abschuss frei – im Wissen, dass vor Hass kein noch so solides Gesetz schützt.
Da planen drei junge Männer tatsächlich ein Massaker auf der Vienna Pride! Da schwenkt ein grauer Mob arg besorgter Bürger Schilder mit der Aufschrift „Villa Vida zusperren“, nur weil in dieser Villa, die ein queeres Café ist, ein Mann im Frauenkleid Kindern die Geschichte von einer Prinzessin vorliest, die einen Prinzen vor einem Drachen rettet.
Weit weniger harmlos ist das als Wahrheit verkaufte schmierige Schauermärchen von der „Frühsexualisierung“, das böse Ressentiment, das sich laut und schrill als Wachsamkeit verkleidet. Und wie schlafen die frömmelnden Vigilanten, die Kruzifixe schwingend vor Ambulatorien warten, um glücklos geschwängerte Frauen auf der Suche nach Hilfe des  Mordes zu bezichtigen? Oder die selbsternannten „Retter der Familie“, die abseits der bunten Parade Grabesstimmung verbreiten mit kleinen Täfelchen, auf denen zu lesen steht, dass Kinder keinen Sex, aber Liebe brauchen. Als habe irgendwer irgendwas anderes behauptet.

Dass diese Sauertöpfe immer ans Eine denken, lässt nicht darauf schließen, dass ihr Familienmodell besondere Freuden bereithält. Und ihre „Nächstenliebe“ ist nicht annähernd christlich. Sie ist ein gehässiger Aufruf, es sich tunlichst heute im Gestern behaglich zu machen. Die Schreckensherrscher der Welt reiben sich schon die Hände. Schauen wir nach Israel, wo konservative Kräfte Geschlechtertrennung und die Verdrängung von Frauen aus dem öffentlichen Raum durchzusetzen suchen! Schauen wir in den Iran, nach Afghanistan, in all die Herrenländer, in denen Frauen verfolgt und erniedrigt werden! Ganz zu schweigen von Menschen, die weder als „richtige“ Männer noch als Frauen durchgehen. Es ist nicht lange her, dass unsere eigenen Leute beinhart ins Gas geschickt wurden, nur weil sie anders liebten.
Wie tief kann man eigentlich sinken, Damen oder Herren? Sparen Sie sich gefälligst Ihre heuchlerische, aggressive Besorgtheit! Wir werden hier gar nichts zusperren – weder die Villa Vida, noch Frauenanlaufstellen oder „Safer Spaces“, die es leider braucht, solange es Hetzer wie Sie gibt, die frei herumlaufen dürfen! Der Raum für diese Menschen darf nie wieder enger werden, keinen Millimeter, unter keinem Vorwand und keiner Sorge wegen!

Und Sie, die Sie in diesem Land, einem der reichsten und schönsten auf unserem Planeten, politische Ämter bekleiden, halten Sie dagegen! Ich wette, Sie meinen es gut und versuchen Ihr Bestes. Und es braucht arg viel Kraft, Cleverness und Mut, gute Ideen zu entwickeln, sich nicht korrumpieren zu lassen von der Stimmung im Stimmvolk oder Dinge zu sagen, die die wenigsten hören wollen. Ich verstehe schon, dass da manch einer schlappmacht und im Zustand des emotionalen Bankrotts der Versuchung erliegt, Gefahren aufzubauschen oder sogar zu erfinden, um sich als Retter zu geben. Diesen Trick kann jeder und er wirkt hundertprozentig. Aber wollen Sie als Profiteure der Angst in die Geschichte eingehen, als listige Krisengewinnler, die uns in einen Krieg führen, der nicht zu gewinnen sein wird? Und glauben Sie allen Ernstes, mit den Wutverwüsteten, Verängstigten und Besorgten sei ein Staat zu machen? Wetten, die kämen zu Fall in einer Welt der Stärkeren.

Ich wünschte, ich müsste Sie nicht noch ein paar Sätze lang mit Sexismus langweilen, aber als Schriftstellerin kann ich nicht dazu schweigen, was da neuerdings abgeht in den Vereinigten Staaten oder bei unseren ungarischen Nachbarn: dieses Geschrei um Bücher, die sich mit Diskriminierung, Geschlechteridentität und Homophilie befassen. Wieder dient den Treibern eine Sorge als Scheingrund. Sie drehen es so hin, als ob entsprechende Lektüre Kinder und Jugendliche zum „Anderssein“ verführe: „Genderindoktrination“ lautet das Killerwort gegen Geschichten, die jungen Menschen Verständnis für die Lebenslagen anderer vermitteln oder ihre eigene Verzweiflung ein bisschen lindern, wenn sie sich anders wähnen. Herrschaftszeiten, Leute! Wollen Sie den Jungen die Lebenshilfe kürzen? Geht es denn noch tiefer?
Ich weiß schon, die Gegenkräfte, auf die Sie sich gern berufen, setzen ihrerseits auf Säuberungsaktionen und kruden Konformismus. Wollen die jetzt wirklich Wer die Nachtigall stört und Die Abenteuer des Huckleberry Finn von Schulbuchlisten streichen, um rassistisches Unrecht nachhaltig abzubüßen? Das Spiel ist immer das gleiche – und, wäre es nicht so tragisch, an Komik unübertrefflich: Die einen wollen verordnen, die anderen verbieten. Und jeder glaubt sich gut und schwingt die moralische Keule gegen die Widersacher.

Wer die peinlichen Händel als Scheingefechte abtut, hat allerdings nichts begriffen. Das vielzitierte Schnitzel soll nicht vergessen machen, dass es hier um die Wurst geht – verzeihen Sie den üblen Wortwitz –, um die Neuverhandlung des Wesens unserer Gesellschaft, um das, was uns eint und zerrüttet.
Dieser Prozess ist nötig, wenn ein Aufbruch bevorsteht, wenn man am Kreuzweg steht und um die Richtung streitet, obwohl man dasselbe Ziel hat: Friede, Freude und ein Stück vom
Eierkuchen. Es wird immer welche geben, die rücksichtslos vorpreschen wollen, Desorientierte auch, die nach Führern rufen, und solche, die lieber zurückgehen, als sich vorzuwagen.

In Zeiten der Unsicherheit sehnen sich die Schwachen nach Geborgenheit in der alten Ordnung, nach der „klaren Kante“ oder wie Sie das nennen. „Normales Denken“ eben. „Gesundes Volksempfinden“ … Ja! Nehmen wir Begriffe, die man in die Gülle von einst versenken wollte, denn die unverbrauchten, stubenreinen Wörter, die man stattdessen verwendet, verschweigen, woraus wir Lehren ziehen und was wir lehren müssen: Ermuntern wir die Jungen, neue Wege zu wagen, den Blick zum Guten zu wenden, Kraft aus Vielfalt zu schöpfen und die Welt zu bewahren vor jedweder Verwüstung! Fördern wir sie nicht mit Blick auf das Geschlecht, sondern nach ihrer Neigung – gerade die Leistungsschwachen, Verhaltensoriginellen, Andersartigen, Schwärmer und Phantasten! Es sind meist nicht die „Normalos“, die später als Künstlerinnen von sich reden machen.

Es sei daran erinnert, dass das, was wir heute feiern, naturgemäß nicht normal ist – weder durchschnittlich noch artig. Kunst kann nicht entarten. Sie dient keinen fremden Zwecken, muss nichts, außer dürfen. Und wenn sie nun wieder welche zu disziplinieren trachten durch Förderungsverweigerung, Auftrittsverbote oder sogar Gesinnungsprüfung, so halten wir bitte dagegen, weil es sonst bald nichts mehr gibt, das uns davor bewahrt, immer tiefer zu sinken!

Kunst taugt nicht zum Ausgleich gesellschaftlichen und politischen Versagens. Sie kann die Welt nicht retten, aber beim Leben helfen, begütigen und trösten – und uns animieren, das Erhebende in uns selbst zu entdecken: Das Weibliche ziert und belohnt uns alle gleichermaßen. Rehabilitieren wir Gnade und Hilfsbereitschaft, Mitleid und Toleranz, vergeben wir einander, auch den alten Vätern, die es gut mit uns meinten, aber nicht besser wussten! Erweitern wir die Räume, in denen Neues entstehen kann! Und sorgen wir dafür, dass, was dort entsteht, auch gehört und gesehen wird! Erst durch den Resonanzraum wird Musik Ereignis.

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2  Kommentare
2  Kommentare
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ileda (316 Kommentare)
am 10.09.2023 19:08

Großartige Rede, ein toller Mensch, klug und eloquent!

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Sauwaldbuchmann (92 Kommentare)
am 10.09.2023 13:34

Danke das ihr diesen Text in der Gesamtheit zum lesen bereitgestellt hat. Der Text berührt mich zutiefst und ich finde die Worte großartig, ein Glück.

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