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"Ihr könnt mich jetzt alle!"

Von Helmut Atteneder, 16. November 2019, 00:04 Uhr
"Ihr könnt mich jetzt alle!"
Juan Moreno: "Claas Relotius erfand vom Fleck weg." Bild: APA/AFP

Juan Moreno deckte den größten Skandal in der Geschichte des "Spiegel" auf.

Juan Moreno ist freier Redakteur beim großen deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Als solcher hat der 47-jährige Journalist den "Fall Relotius" aufgedeckt. Claas Relotius hatte über Jahre hinweg Reportagen und Interviews zur Gänze oder zumindest teilweise erfunden. Juan Moreno hat den Betrugsfall in seinem Buch "Tausend Zeilen Lüge" zusammengefasst.

OÖNachrichten: Herr Moreno, Sie haben für die Recherche gegen Claas Relotius alles aufs Spiel gesetzt. Sind Sie generell ein mutiger Mensch?

Juan Moreno: Ich glaube, dass ich ein ängstlicher Mensch bin, gebe mir aber sehr viel Mühe, das zu bekämpfen. Ich bin der untalentierteste Skifahrer des Planeten, traue mich aber überall hinunter. Ich bringe mich gerne in Situationen, die gezwungenermaßen einen Charakterzug in mir unterdrücken.

Wie oft haben Sie sich verflucht, sich mit dem Spiegel und Autorengott Claas Relotius anzulegen?

Ich habe oft gesagt, ihr könnt mich jetzt alle, es ist mir egal, ich schmeiße alles hin. Er soll doch lügen oder nicht lügen. Aber letztlich war es auch Notwehr. Weil es um einen Artikel ging, der auch meinen Namen trägt. Da laufe ich ja auch Gefahr, dass die Sache auffliegt und dann wird man vielleicht sagen, was ist denn mit dem Moreno, der hat doch auch mitgeschrieben an dem Text. Wenn Sie einen Text mit einem Kollegen schreiben und plötzlich erkennen Sie: Stopp, der lügt, dann sind Sie mit drin. Ich kam aus dieser Geschichte nicht mehr heraus.

Waren Sie überrascht, dass Sie von den Menschen als Fußabstreifer für deren Fake-News-Fantasien herhalten mussten?

Nein, ich bin ja Realist. Ich weiß, dass viele Menschen glauben, dass Journalisten sich die Sachen ausdenken. Früher habe ich mich auf solche Debatten nicht eingelassen, weil ich wusste, wie Journalisten arbeiten. Diese Arroganz fällt mir jetzt natürlich schwerer. Dieser Widerspruch bleibt mir jetzt im Halse stecken, weil, du redest ja vom Spiegel. Du redest von der größten Dokumentationsabteilung des Planeten, und da erfindet einer 60 Geschichten mehr oder weniger komplett. Das sind knapp drei gesamte Ausgaben des Spiegel – komplette Märchen.

Hat man Ihnen beim Spiegel Konsequenzen angedroht, wenn Sie dieses Buch schreiben?

Ich habe angekündigt, dass ich es schreibe. Mir war ja lange Zeit nicht klar, ob der Spiegel von sich aus Aufklärung betreibt, oder erfahren wir, was tatsächlich passiert ist, erst aus meinem Buch. Ich habe dem Spiegel gesagt: Ihr habt mich im Dezember als großen Retter gefeiert und ich möchte dieses Buch schreiben, weil es mein Beruf ist und auch für mich hoffentlich ein Schlusspunkt. Hier, kauft das Buch, da steht alles drinnen und dann lasst mich in Ruhe.

Es ist nicht einfach, das richtige Wording zu finden, wenn man doch selbst im Glashaus sitzt.

Das ist natürlich beim Schreiben wie ein Minenfeld. Man läuft ja schnell Gefahr, sehr arrogant und überheblich zu wirken, wenn man da schreibt: Seht her, ich hab’s euch allen gesagt, ich weiß es besser. Was für ein dämlicher Angeber ... Den richtigen Ton zu finden, das hat schon eine Weile gedauert.

Eigentlich müssten Sie jetzt beim Spiegel eine Fixanstellung samt Leitungsaufgaben bekommen – Sie haben dem Blatt eine noch schlimmere Katastrophe verhindert.

Das ist ja nicht Österreich, und auch nicht Spanien, sondern eher nordisch kühl. Man hat sich im Frühling bei mir bedankt, aber ich bin weiter freier Journalist mit Vertrag, der relativ unproblematisch wieder aufgelöst werden kann. Natürlich ist man beim Spiegel immer noch dankbar für jedes Interview zum Fall Relotius, das ich nicht führe.

Wie hat man beim Spiegel auf das Buch reagiert – hasst man Sie in Wirklichkeit?

Das weiß ich nicht. Auf Spiegel Online stand einmal kurz etwas von einer fairen, kraftvollen Analyse in Bezug auf das Buch. Sie wollten die Stunde ihres größten Skandals nicht noch auch promoten. Das verstehe ich ja auch.

Wie ist Ihr Standing im Haus unter den Kollegen?

Mir gegenüber sind alle professionell freundlich, was sie wirklich denken, werden sie mir wahrscheinlich nicht sagen. Einige im Haus waren sehr verärgert, das sind ja auch Interna, die da veröffentlicht wurden.

Was ist im Spiegel heute anders als vor dem Fall Relotius?

Die Dokumentations-Mechanismen haben sich geändert. Es wird noch härter nachgeprüft. Da muss man teilweise Telefonmitschnitte vorlegen. Es hat aber Grenzen. Es gibt einfach Situationen, da muss der Leser einfach glauben, dass es so war, wie ich es beschreibe.

Wissen Sie, was Herr Relotius jetzt macht?

Ich weiß, dass er mit Kollegen gesprochen hat und ihnen gesagt hat, dass er noch Zeit braucht, um das Ganze für sich auszuwerten. Dass er sich Hilfe gesucht hat. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen, unter anderem, weil sich der Anwalt von Claas Relotius bei mir gemeldet und gebeten hat, keine persönlichen, rechtsrelevanten Aussagen über ihn zu machen.

Claas Relotius hat sehr viele Preise für seine Reportagen gewonnen. Kann das so süchtig machen, dass man die Wahrheit, die journalistische Sorgfaltspflicht dafür aufgeben könnte?

Ich würde diese These unterstützen, wenn es eine graduelle Entwicklung gegeben hätte, wenn das Erfinden bei Relotius immer mehr geworden wäre. Es ging aber sofort los. Er erfand vom Fleck weg.

Würden Sie mit ihm gerne einmal auf ein Bier gehen?

Ja, ich hätte einige Fragen. Was hat dich getrieben? Willst du dich entschuldigen? Es gibt ja einige, die deinetwegen ihre Stelle verloren haben. Ich würde gerne wissen, was er solchen Menschen sagt. Ich würde wissen wollen, was er gedacht hat in jenen Momenten, als er immer wieder kurz davor stand, aufzufliegen. Wie kann man da die Nerven behalten!

Claas Relotius, der Felix Krull der Journalisten

Am 19. Dezember 2018, kurz nach Mitternacht, legt Claas Relotius ein umfassendes Geständnis ab. Der für seine Reportagen mit Preisen überhäufte Starjournalist des renommierten deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ gibt etwas Unglaubliches zu. Relotius hat zahlreiche Reportagen zum Teil gänzlich erfunden, viele andere schlampig recherchiert oder mit Fantasien aufgefettet.

Letztlich gestolpert ist der Betrüger und Journalisten-Hochstapler über eine frei erfundene Reportage, für die er eine Bürgerwehr an der Grenze der USA zu Mexiko getroffen haben wollte. Aufgeflogen war der 33-Jährige, weil er diesmal nicht allein „recherchiert“ hatte. Ihm zur Seite gestellt wurde Juan Moreno, ein langjähriger freier Mitarbeiter des Blattes.

Bald fielen dem gebürtigen Spanier Ungereimtheiten in der Reportage auf. Weil ihm lange niemand geglaubt hat, musste der 47-Jährige in der Redaktion Kopf und Kragen riskieren. Jetzt hat Moreno unter dem Titel „Tausend Zeilen Lüge“ den Fall Relotius in Buchform aufgearbeitet. Auf 285 Seiten wühlt er sich noch einmal durch diese Wochen, an deren Ende der „Spiegel“ zur Selbstanzeige Schritt.

Es ist ein spannendes Buch geworden, vor allem, wenn Moreno beschreibt, wie er dem genial-ausgefuchsten Kollegen auf die Schliche kommt, dessen kriminelle Genialität, seine eigenen gemischten Gefühle, wenn es um mögliche Konsequenzen geht. „Tausend Zeilen Lüge“ ist ein mutiges Buch eines mutigen Journalisten über einen kriminell veranlagten Hochstapler, das weit über die Branche hinaus zum Lesen empfohlen werden kann. (att)

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge, Rowohlt, 285 Seiten, 18 Euro

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Autor
Helmut Atteneder
Redakteur Kultur
Helmut Atteneder
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