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"Wütend, verzweifelt, abgrundtief traurig"

03. August 2021, 00:04 Uhr
"Wütend, verzweifelt, abgrundtief traurig"
Diese von einem Bürogebäude aus gefilmte Bildkombination zeigt die Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020. Bild: APA/AFP/GABY SALEM/ESN/-

BEIRUT. Vor einem Jahr kam es zur verheerenden Explosions-Katastrophe im Hafen von Beirut.

Schwer atmend wischt sich Nabil Alam eine Träne aus den Augen, als er "das Unfassbare" zu beschreiben versucht. Es sei kurz nach 18 Uhr gewesen. Der Verwaltungsdirektor des "Hopital des Soeurs du Rosaire" war in Bsalim spazieren. Von dem auf dem Hügel liegenden Vorort der libanesischen Hauptstadt hat man direkte Sicht auf das Hafengelände, wo plötzlich eine Rauchsäule aufsteigt. "Im grauen Dunst waren explodierende Feuerwerkskörper zu sehen", erinnert sich Nabil. "50 Sekunden später brach die Hölle los …"

"Wie in Hiroshima", versucht der ruhige, in sich gekehrte Libanese die gigantische weiße Dampfwolke zu beschreiben, die sich am 4. August 2020 nach einer gewaltigen Explosion kugelförmig über Beirut ausgedehnt und den Hafenbereich verwüstet hatte. Dort befindet sich auch das Spital der Rosenkranz-Schwestern. Als Nabil 40 Minuten später vor dem schwer beschädigten Gebäude ankommt, wird gerade eine Krankenschwester tot geborgen – erschlagen von einem herabstürzenden Stahlträger.

Über die Feuertreppen hatte die Evakuierung der Patienten begonnen, während auf der mit Trümmern und Glasscherben übersäten Straße vor dem Hospital die Schwerverletzten behandelt werden. Ein Jahr später sind die schwersten Schäden behoben. In Nabils Büros klaffen noch immer Löcher in der Deckenverkleidung. Zwei der 18 Stockwerke können wieder Patienten aufnehmen.

Fassadengerüste wurden auch am Hauptquartier des angrenzenden "Cat Group Building" aufgestellt. Vom Dach des achtstöckigen Gebäudes sieht man die "neuen Wahrzeichen" von Beirut: die durch Hunderte Tonnen Ammoniumnitrat zerstörten Getreidesilos, gekenterte Schiffe sowie bizarr verformte Eisenträger, die aus riesigen Schuttbergen herausragen.

Zweifel an der Unfalltheorie

"Durch einen Schweißunfall kann dieses Inferno nicht verursacht worden sein", widerspricht Antony Kazem der These, Reparaturarbeiten an der Außenmauer der Lagerhalle hätten zur Explosion des Ammoniumnitrats geführt, das ein Schiff vor acht Jahren nach Beirut gebracht hatte. Der für die Renovierung des "Cat Group Building" verantwortliche Ingenieur ist sich sicher, dass "ausländische Mächte" in die Explosionskatastrophe verwickelt waren.

Nur eine internationale Untersuchungskommission könne die Wahrheit ans Licht bringen, fordert er. Von der libanesischen Justiz sei keine Hilfe zu erwarten. Kein einziges Verbrechen, das während des Bürgerkrieges (1975–1990) und der Zeit danach begangen wurde, sei aufgeklärt. Viele Ex-Warlords sitzen heute in der Regierung. Sie wussten über das explosive Material im Hafen Bescheid und taten, wenn es um das Gemeinwohl geht, was sie immer tun, nämlich nichts.

Die Haifa-Klinik liegt im Flüchtlingslager Bourj el Barajaneh. Trotz steigender Corona-Infektionen verzichtet Klinik-Direktor Mohammed Salah auf einen Mund-Nasen-Schutz. Als ich ihn darauf anspreche, lacht er: "Covid ist im Libanon das geringste Problem." Da die Stromversorgung zusammengebrochen sei und auch ein Großteil der Wasserversorgung auszufallen drohe, müsse er täglich dafür kämpfen, dass wenigstens die Generatoren einige Stunden laufen. Der Diesel dafür wird auf dem Schwarzmarkt verkauft.

Nur zwei Stunden Strom am Tag

Seit Anfang Juli liefert die staatliche Elektrizitätsbehörde nur zwei Stunden Strom am Tag. Auch Medikamente werden nicht mehr importiert. Seine Mitarbeiter seien stundenlang unterwegs, um Tabletten auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Die Profite landeten in den Taschen der Ex-"Warlords" um Parlamentschef Berri, Drusenführer Joumlatt und Präsident Aoun.

Ihr Aufstieg begann während des Bürgerkrieges in dem von 18 religiösen Clans beherrschten Land. In der Hoffnung auf Macht und Einfluss war der Bruderkrieg von der arabischen Welt finanziert worden. Hunderte Millionen Dollar flossen damals in die konfessionell gespaltene Zedernrepublik. Über Jahre stabil blieb die Landeswährung Lira. Für einen Dollar, erinnern sich heute viele sehnsüchtig, bekam man drei Lira.

Heute kostet der Dollar fast 20.000 Lira. Vor dem Zusammenbruch des Finanzsystems 2019 war die Lira zu fixem Kurs von 1 zu 1507 an den Dollar gebunden. Der Mindestlohn von 600.000 Lira war gegen 400 Dollar eintauschbar. Heute bekommt man nur noch 30 Dollar dafür. Gleichzeitig stiegen die Preise von Importwaren um mehr als 400 Prozent.

"Innerhalb weniger Wochen war ich ein armer Mann", sagt Raschid, der aus Scham seinen Familiennamen nicht nennen möchte. "Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich einmal meine Freunde im Ausland bitten müsste, mir Medikamente mitzubringen", flüstert der demoralisiert wirkende 67-Jährige. Die Kleptokratie der Herrschenden mache ihn "wütend, verzweifelt, abgrundtief traurig".

So geht es Hunderttausenden, die einmal zur Mittelklasse gehörten und langsam verarmen. Ein wenig Hilfe erhalten sie von Familienmitgliedern im Ausland. Der Staat lässt seine Bürger nicht nur im Stich, er bereichert sich auch noch an ihnen. Eine Ausnahme bildeten die Schiiten. "Sie leben etwas besser als die anderen Libanesen, weil die Hisbollah ihren Kämpfern Dollar gibt", sagt Samer Manaa.

Einzig die Hisbollah hilft

Der Journalist und Sozialarbeiter begleitet mich in einen Supermarkt der Schiitenorganisation. Viele aus dem Iran importierte Lebensmittel werden hier zu Vorzugspreisen angeboten. Ein Kilo Reis kostet nur halb so viel wie im Zentrum. Von der Hisbollah als arm oder "entrechtet" Eingestufte erhalten "Bedürftigkeitskarten". Die berechtigen zum kostenlosen Bezug von Grundnahrungsmitteln. Auch um Medikamente, Schulen und Altersheime kümmert sich die Hisbollah.

Die Hisbollah ist ein Staat im Staat. Ihre vom Iran finanzierten Wohlfahrts- und Finanzorganisationen wurden durch die massive Wirtschaftskrise ebenso gestärkt wie die mafiösen Netzwerke der Ex-Warlords. Was sie mit der Hisbollah eint, ist das Interesse an einem schwachen Staat. "Das wird auch so bleiben", befürchtet Maya Majzoub. Über die Zukunft werde ohnehin nicht im Libanon, sondern in Teheran, Washington und Paris entschieden, glaubt die Beiruter Politologin. Mit Spannung warten die Libanesen auf die Fortsetzung der Wiener Atomgespräche zwischen dem Iran sowie den fünf Supermächten und Deutschland. Zu dem verhandelten "Gesamtpaket" gehöre auch der Libanon.

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1  Kommentar
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mitreden (28.669 Kommentare)
am 03.08.2021 09:47

Das wird nichts, wenn sich die Amis einmischen.

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