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Sechs Wochen Ausnahmezustand

Von Clemens Schuhmann, 29. Juni 2019, 00:04 Uhr
Sechs Wochen Ausnahmezustand
Bild: Verlag

Ein sehr bewegendes Buch über eine abenteuerliche Flucht aus der DDR im Sommer 1989, die in eine 12.000 Kilometer lange Odyssee ausartet – und über jugendlichen Mut.

Es war alles andere als sicher, dass es im Aufnahmelager in Gießen oder an irgendeinem anderen Ort in Deutschland überhaupt zu einem Wiedersehen kommen würde: Katrin Linke, damals 22 Jahre alt, hat nämlich bereits seit Tagen nichts von ihrem Freund Karsten gehört. Sie weiß nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben ist. Sie hat viele Tränen vergossen und ist abgemagert, weil sie aus Kummer kaum noch isst.

Dann, plötzlich, sieht sie in der Schlange der Neuankömmlinge in Gießen eine vertraute Gestalt, allerdings nur von hinten. Sie glaubt in ihrer Verzweiflung, dass das womöglich nur eine Fata Morgana ist, reibt sich die Augen. "Ich drücke mir schnell die flache Hand auf den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Für einen Moment verharre ich hinter ihm, atme den vertrauten Duft, wohl wissend, dass sich dieser Augenblick in mein Gehirn meißeln wird, ich ihn nie vergessen werde. Dann hebe ich meine Arme, lege sie sanft um seine Taille, schmiege meinen Kopf an Karstens Rücken, spüre die Wärme, die er verströmt."

Diese Schilderung ist einer der bewegendsten und berührendsten Momente in diesem wunderbaren Buch, das den Leser von der ersten Seite an gefangen nimmt. Und mitnimmt auf eine Zeitreise in den Sommer 1989. Damals, in diesen besonderen Monaten voller Umbrüche, starten Katrin Linke und Karsten Brensing mit ihrem streng geheimen Vorhaben: Die beiden 22-Jährigen wollen die DDR verlassen. Sie sehen im darbenden Arbeiter- und Bauernstaat keine Perspektive mehr.

Keine Zukunftsperspektiven

Linke möchte Ärztin werden, darf aber nicht studieren, weil sie Verwandtschaft in der Bundesrepublik hat. Ihrem Freund geht es ähnlich – er hat aus politischen Gründen keine Chance, Meeresbiologe zu werden. Für ihr lebensgefährliches Vorhaben haben sie monatelang trainiert – sie planten ja ursprünglich, schwimmend in den Westen zu gelangen.

Letztlich kommt alles anders: Der "todsichere Plan", mit gefälschten Pässen via Taschkent in der damaligen Sowjetrepublik Usbekistan auszureisen, zerschlägt sich. Ebenso sind Plan B und C nicht zu realisieren: via Pamir-Gebirge zu Fuß nach Afghanistan bzw. von der estnischen Sowjetrepublik per Boot nach Finnland.

In ihrer Verzweiflung reisen die beiden nach Ungarn, wo das Grenzregime zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so streng sein soll. Das hoffen sie zumindest. Die Flucht misslingt aber auch hier mehrfach. Daher beschließen sie als Ultima Ratio: Wir müssen uns trennen. Sie wollen jeder für sich sein Glück versuchen. Unklar ist zu diesem Zeitpunkt, ob sich die zwei Liebenden je wiedersehen werden.

Unter der Rücksitzbank im VW

Kerstin Linke schafft es unter der Rücksitzbank in einem VW Polo zweier Urlauberinnen nach Österreich. Und Karsten Brensing wagt sich tatsächlich noch ins Wasser: Er steigt in Südungarn in die Donau und schwimmt in sechs Stunden 25 Kilometer stromabwärts nach Jugoslawien. Via Belgrad schafft er es dann nach Gießen.

Dieses wunderbare Buch erzählt die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht, die letztlich zu einer sechswöchigen und 12.000 Kilometer langen Odyssee wurde. Und es erzählt von jugendlichem Willen und Mut. Die spannende und immer wieder sehr berührende Geschichte ist so aufgeschrieben, dass man das Buch nicht mehr weglegen will – auch wenn es noch so spät in der Nacht ist.

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