Wirecard: 100 Prozesstage und kein Ende in Sicht
MÜNCHEN. Vor 14 Monaten wurde der Prozess um den insolventen Zahlungsdienstleister eröffnet. Alle Beteiligten müssen vor allem eines mitbringen: viel Geduld.
Heute, Mittwoch, findet im Landgericht München der 100. Verhandlungstag im Wirecard-Prozess statt. Geladen ist die frühere Aufsichtsrätin Anastassia Lauterbach.
Sie muss sich auf Fragen einstellen, mit denen die Richter bereits andere ehemalige Mitglieder des Kontrollgremiums konfrontiert haben. Beeinflusste oder behinderte der Wirecard-Vorstand die Arbeit von Aufsichtsrat und Wirtschaftsprüfern?
Streit nach sich ziehen könnte am 100. Prozesstag aber die Entscheidung des Gerichts, den Haftbefehl gegen den Kronzeugen Oliver Bellenhaus nach über dreieinhalb Jahren außer Vollzug zu setzen. Damit verbleibt der frühere Vorstandschef, der Österreicher Markus Braun, nunmehr als einziger der drei Angeklagten in Untersuchungshaft.
"Schmutziger Deal"
Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm warf der Münchner Justiz nach Bellenhaus' Freilassung prompt einen "schmutzigen Deal hinter verschlossenen Türen" vor.
Nach 14 Monaten zeichnet sich ein Bild ab, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. So erklärte eine kürzlich per Videovernehmung aus Bangkok zugeschaltete Zeugin, dass sie von Wirecard noch nie gehört habe. Doch ihre Unterschrift samt Passkopie findet sich in Firmenunterlagen. Die Verkäuferin war offensichtlich eine Strohfrau, laut ihrer Aussage ohne eigenes Wissen und Zutun.
Und ein aus Malaysia angereister japanischer Manager nahm im Gerichtssaal augenscheinlich verwundert zur Kenntnis, dass er in Singapur Direktor oder Gesellschafter bei an die hundert Unternehmen des Wirecard-Dunstkreises gewesen sein soll.
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Der frühere Aufsichtsratsvorsitzende Thomas Eichelmann sagte aus, dass in einer von Braun im April 2020 veröffentlichten Ad-hoc-Nachricht die vom Aufsichtsrat geforderten Informationen gefehlt hätten. Ein britischer Manager des US-Unternehmens Visa bezeugte, dass es für in Wirecard-Unterlagen dokumentierte Kreditkartenzahlungen keine Belege im Visa-Rechnersystem gebe. Ein früherer Wirecard-Jurist bekundete, dass den Compliance-Vorschriften zur rechtstreuen Unternehmensführung in dem 2020 kollabierten Konzern keine allzu große Bedeutung zugekommen sei.
Opfer oder Täter?
Doch die Kernfrage des Prozesses ist ungeklärt: War Vorstandschef Braun ein Betrüger - oder Opfer des seit 2020 abgetauchten früheren Vertriebsvorstands Jan Marsalek und dessen Komplizen? Auch Marsalek ist ein Österreicher.
Laut Anklage waren Braun und Mitangeklagte Mitglieder einer Betrügerbande, die nicht vorhandene Milliardenumsätze erdichtet haben soll. Kronzeuge Bellenhaus hat Braun der Mittäterschaft beschuldigt. Die erdichteten Geschäfte sollen laut Anklage im Wesentlichen über die drei "Drittpartner" Al Alam, Payeasy und Senjo verbucht worden sein. Diese Firmen sollen - angeblich im Wirecard-Auftrag - im Mittleren Osten und in Südostasien Zahlungsgeschäft mit Kreditkarten betreut haben.
Der frühere Vorstandschef und seine Verteidiger bestreiten nicht, dass bei Wirecard Kriminelle am Werk waren. Doch was seine eigene Rolle betrifft, weist der ehedem von etlichen Kleinaktionären als Technologieguru verehrte Braun sämtliche Vorwürfe zurück. Nach Darstellung seiner Verteidiger schafften Marsalek, Bellenhaus und Komplizen über ein Geflecht von Schattenfirmen real existierende Milliarden aus echten Geschäften auf die Seite, ohne Wissen oder Beteiligung Brauns. Dem Kronzeugen werfen Brauns Anwälte Lügen vor, was zu der empörten Reaktion nach Bellenhaus' Freilassung beitrug.
Keine Spur der fehlenden Milliarden
Brauns Verteidiger argumentieren, dass in Wahrheit Marsalek hinter den drei Drittpartnern steckte. Der kürzlich vernommene japanische Zeuge bestätigte das zumindest für die in Singapur ansässige Senjo - und ergänzte, dass es in dieser Firmengruppe weder die erforderliche Technik noch Mitarbeiter für Zahlungsgeschäft gegeben habe.
Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bisher keine Spur der fehlenden Milliarden gefunden, seiner Einschätzung der tatsächlichen Zahlungsflüsse könnte große Bedeutung zukommen. Doch bis Jaffé als Zeuge im unterirdischen Gerichtssaal der JVA Stadelheim erscheint, werden wohl noch Monate ins Land gehen. Laut Gerichtssprecher soll der Insolvenzverwalter voraussichtlich gegen Ende der Beweisaufnahme als Zeuge vernommen werden.
So etwas passiert, wenn die StA (in diesem Fall vorwiegend München?) sich lange Zeit weigert, zu ermitteln und Beweise auch im Ausland zu sichern. Ohne Beweise wird alles sehr mühselig.