Die Ukraine wendet sich von Europa ab
KIEW/BRÜSSEL. Die Ukraine hat das mit der EU mühsam ausgehandelte Assoziierungsabkommen wenige Tage vor der geplanten Unterzeichnung gestern überraschend auf Eis gelegt.
Der Schritt erfolge aus "Gründen der nationalen Sicherheit", teilte die Regierung mit. Die EU und die Ukraine sollten die Folgen des Abkommens zunächst gemeinsam mit Russland besprechen, hieß es. Genau dies hatte kurz zuvor der russische Staatschef Wladimir Putin vorgeschlagen.
Eigentlich sollte das Abkommen am Freitag kommender Woche beim Gipfel zur EU-Ostpartnerschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius unterzeichnet werden.
Timoschenko bleibt in Haft
Doch der russische Widerstand ist nicht das einzige Hindernis: Im Parlament in Kiew war gestern ein erneuter Vorstoß für die medizinische Behandlung der in Haft erkrankten Oppositionsführerin Julia Timoschenko in Deutschland gescheitert. Die Freilassung der wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilten Politikerin gilt aber als Grundforderung der Europäischen Union für das Assoziierungsabkommen. Sie betrachtet das Urteil gegen die frühere Regierungschefin als politisch motiviert.
Keine der sechs Gesetzesvorlagen der geplanten Lex Timoschenko erhielt in der Obersten Rada die nötige Mehrheit. Die Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko reagierte mit "Schande, Schande"-Rufen auf das Abstimmungsergebnis.
Oppositionspolitiker Arsenij Jazenjuk bezichtigte vor dem Hintergrund der Entwicklungen Präsident Viktor Janukowitsch des "Hochverrats" – und forderte dessen Absetzung und den Rücktritt seiner Regierung. Die Opposition forderte Staatschef Janukowitsch außerdem auf, Timoschnko zu begnadigen. Dies hatte der Staatschef mehrfach abgelehnt. Das Parlament berät heute erneut über das "Timoschenko-Sondergesetz".
Präsident Janukowitsch in Wien
Janukowitsch hielt sich gestern zu einem Besuch in Wien auf. Bevor das Regierungsdekret mit der Abwendung von der EU bekannt wurde, erklärte er auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundespräsident Heinz Fischer noch vollmundig: "Wir werden auf dem Weg der europäischen Kooperation vorankommen."
Bezüglich der "Lex Timoschenko" verwies er lediglich auf "widersprüchliche Meinungen" im Parlament zu dem Thema. Die Frage der Freilassung sei schwierig zu beantworten, eine Ausreise Timoschenkos "nur unter Einhaltung der bestehenden ukrainischen Gesetze möglich".
Das Assoziierungsabkommen
1200 Seiten: Das vorbereitete Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine ist 1200 Seiten stark. Es ist nach Angaben der EU-Kommission das am weitesten reichende, das die EU bisher ausgehandelt hat.
Das Abkommen befasst sich nicht nur mit Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und der Schaffung einer Freihandelszone, sondern auch mit der politischen Zusammenarbeit. Darin wird eine enge Kooperation in der Außenpolitik, in Justiz- und Grundrechtsfragen vereinbart.
Der Vertrag sieht eine ständige und schrittweise Anpassung von Vorschriften und Normen in der Ukraine an die Standards der EU vor. Der Markt der EU wird fast vollständig für die Ukraine geöffnet – und umgekehrt. In verschiedenen Bereichen gibt es Übergangsfristen. Sofern bestimmte rechtliche, organisatorische und politische Voraussetzungen erfüllt sind, sollen Ukrainer auch ohne Visa in die EU reisen dürfen.