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Vom Fall zur Quelle: Unterwegs am Lechweg

Von Ferdinand Kaineder, 30. Mai 2020, 03:12 Uhr
Vom Fall zur Quelle
Der Lechfluss nährt sich aus vielen Neben-bächen und Wasserfällen entlang des 125 Kilometer langen Weges.

Nach sechs Tagen und 125 Kilometern zum Meditieren und Assoziieren komme ich am Lechweg von Füssen an der deutsch-österreichischen Grenze kommend bei der Lech-Quelle oberhalb von Zug bei Lech an. Wieder einmal bestätigt sich: Alles fängt ganz klein zu fließen an.

Der Lechfluss im Lechtal in Tirol ist einer der ganz wenigen frei fließenden Wild- und Gebirgsflüsse in Europa. Das ist ein kleines Wunder. Natürlich haben in den 60er, 70er bis hinein in die 80er-Jahre die Strom-Produzenten die Gigawatt an elektrischer Energie hinunterfließen sehen. Sie wollten Staumauern errichten, das Wasser einfangen und durch Turbinen ins Tal jagen.

Der damalige massive Widerstand aller Umweltorganisationen und weiter Teile der Bevölkerung war heftig und ausdauernd. "Do muaß da Bluatschink her", hat beispielsweise der Liedermacher und Sänger Toni Knittel gegen die "Strom- und Gigawatt-Technokraten" hunderte Male von der Bühne gesungen. Er selbst ist Lechtaler. Mit seiner Frau Margit habe ich ihn, der mir vor mehr als 20 Jahren vom Lechtal vorgeschwärmt hat, in Holzgau vor dem Kinderkonzert getroffen. Auch er hat sich für den Erhalt des Lech als natürlich fließenden Gebirgsfluss eingesetzt. Der Widerstand hat sich ausgezahlt. Jetzt stürzt, fließt, sucht, mäandert, steht das Wasser, ist aber nie angestaut. Der Weg ist eine einzige wunderbare Meditation mit dem aufkeimenden und heilsamen Gedanken: Es wird im Gehen und am fließenden Wasser geheilt.

Heute bekommt der Fluss sogar Land zurück, damit sich das Wasser in aller Weite und Breite ins Tal fallen lassen kann. Immer wieder, wenn der Weg direkt am Fluss geht, ist schön zu beobachten, wie sich das Wasser Ufer-Land zurückholt, vor allem in Zeiten von "Hoch-Wasser", das bis auf das 450-fache Quantum anwachsen kann. Unglaublich und unvorstellbar, welche Kraft und Dynamik in so einem Fall (2005) das ganze Tal erfasst. Wenn ich die Lech-Sümpfe bei Pflach von einem fast 20 Meter hohen, frei stehenden Aussichtsturm sehe oder zwischen Weißenbach und Stanzach die Weite der Schotterbänke betrachte, dann ist viel Platz für Wasser und für Tiere der unterschiedlichsten Art. Schautafeln am Weg zeigen anschaulich, wie vielfältig die Flora und Fauna sich hier gestaltet und entfalten darf.

Das Ziel ist der Start

Zurück zum Fall. Beim stürzenden Wasser in Füssen ist das große, geschwungene weiße L als Markierung gleich gut zu erkennen. Normalerweise sind die Lechweg-Geher hier am Ziel. Ich fange an. Der Weg führt die nächsten sechs Tage nicht immer direkt am Lech entlang, sondern mäandert im Tal hinein, hinauf und hinunter, um immer wieder neue Perspektiven auf das fließende Wasser freizugeben. Einen ersten besonderen Ausblick ermöglicht der Kalvarienberg mit Blick auf Füssen hinaus in den Allgäu. Der Weg führt hinüber zum Alpsee. Dort habe ich Blickkontakt mit dem Schloss Neuschwanstein. Der Seeuferweg im Oktober zeigt die schönsten Herbstfarben, die man sich nur ausmalen und vorstellen kann. Deshalb dieses tiefe Gefühl der "gehschenkten Zeit".

Pflach, Wängle, Höfen, Weißenbach, Forchach, Stanzach, Elmen, Häselgehr, Elbigenalp und Bach sind die Ortsnamen bis Holzgau. Dort erwartet mich ein besonderer Übergang, die 200 Meter lange Seilhängebrücke Holzgau über das mehr als 100 Meter darunter liegende Höhenbachtal. Ein Schweizer Ehepaar geht mit mir auf die Brücke zu. Vor einer Holzhütte haben wir gemeinsam in der Mittagssonne Halt gemacht und sind ins Plaudern gekommen. Vor der Brücke stehend meint die Frau: Da gehe ich nie und nimmer drüber. Der Mann geht mutig los. Er ist schon in Tibet über solche Hängebrücken gegangen. Diese Brücke mit ihren Tragseilen und Gittern zum Gehen hat selbst 23 Tonnen. "Schaukeln, spielen, fahren und rennen über die Brücke ist strengstens verboten." Diese Ansage flößt Respekt ein, mit dem ich die Brücke begehe. Sie schwingt etwas unter meinen Schritten. Der Blick geht vorsichtig hinunter ins Tal. Schon ein mulmiges Gefühl. Beim Ankommen drüben Erleichterung und der Gedanke: Übergänge sind immer irgendwie mit Mut und Vertrauen verbunden. Mehr oder weniger.

Das geschwungene L weist den Weg

"Leben, lachen, lieben, leuchten, leiden, leidenschaftlich, leise, lernen, lehren, lesen, leicht." Diese Assoziationsworte habe ich mir in mein Tagebuch notiert angesichts der immer wiederkehrenden Anschauung des großen, geschwungenen L als Wegmarkierung. Der Weg ist in beiden Richtungen gut markiert. Das L an Bäumen, auf Tafeln, Verkehrszeichen, Felsen oder direkt am Boden lässt immer wieder diese schönen Assoziationen aufkommen. Alleine zu gehen bringt mit sich, dass Gedanken und Wahrnehmung in einem dauernden Wechselspiel sind. Die Seele ist dafür der Resonanzraum.

Das L gibt Sicherheit und Orientierung. Das Wasser lässt alle Kräfte fließen, die Häu

ser und Ortschaften atmen die Geschichte der Menschen und ihre Lebensart heute. Berge, Wiesen und Wälder lassen erahnen, in welchen Wechselspielen die Natur in den vier Jahreszeiten hier aktiv ist. Und immer wieder die vom Menschen angebrachten Sicherheiten wie Lawinenverbauungen, Dämme hin zum Wasser oder Straßenbauten.

Sicht frei

Der Geh-Weg macht viele Sichten frei, die ein Autofahrer nie und nimmer zu Gesicht bekommen kann. Zu schnell und zu oft in Tunnels. Allein die Sicht auf Lechleiten, Warth und ein wenig nach Lech hinüber im oberen Teil des Weges am vorletzten Tag zeigt von der Herausforderung des Menschen, die Kraft der Natur mit seinem eigenen Gestaltungswillen irgendwie zu synchronisieren. Manches ist dem Menschen zu gigantisch passiert. Wenn die nötigen Habseligkeiten für diese sechs Tage im Rucksack Platz haben, dann kommen einem manche Nobel-Hotels deplatziert vor. Dabei verstärkt sich der Gedanke Schritt für Schritt: Sich fallen lassen und loslassen gehört als wesentlicher Impuls der Natur ins heutige Leben.

Ende Oktober ist es nicht mehr so leicht, ein Quartier zu bekommen. Mit "Betriebsruhe" erholen sich alle auf den Winterbetrieb hin. Auch in Lech. Die Schneekanonen sind auf der grünen Wiese bereits in Stellung gebracht. Im B&B Hasenfluh macht mir der Bergführer und Wirt beim Eintreffen gleich einen Kaffee, weil ich einen lädierten Eindruck mache. Am Weg von Steeg 800 Höhenmeter hinauf nach Lechleiten hinüber nach Warth bin ich "umgeböckelt" und gestürzt. Mein linker Knöchel ist froh, in Lech zu sein. 15 Kilometer morgen zur Quelle. Manche sagen: die schönste Strecke. Und das stimmt. Deshalb will ich es bis zur Quelle schaffen. Und es ist gegangen. Die Ortschaft Zug, das Älpele, und unter dem Formarinsee beginnt ganz klein im Bachbett das Wasser zwischen den Steinen zu fließen. Hier bin ich, etwas geschafft von den Schmerzen im Knöchel, aber zutiefst andächtig. Die Gedanken wandern in Blitzgeschwindigkeit vom Fall in Füssen und der Menge Wasser dort hierher zur Quelle, dem Beginn eines wunderbaren Wild-Flusses. Irgendwie fühle ich mich neu geboren. Mit einem Ritual verabschiede ich mich. Zurück in Lech besteige ich den Postbus nach St. Anton und dann den Zug. Nach fünf Stunden bin ich in Linz. Auch die Anreise klappte wunderbar mit Zug und Bus nach Füssen. Das Öffi-Fahren ist ebenso ein besonderes Dahinfließen und der erste Schritt zur Entschleunigung.

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2  Kommentare
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AlfDalli (3.986 Kommentare)
am 01.06.2020 09:17

Danke schön für den Artikel!

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baustelle (20 Kommentare)
am 30.05.2020 06:02

Ich bin den Lechweg vor Jahren gegangen, einfach nur ein Traum und sehr empfehlenswert.

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