Als Kinder wieder lernten, einfach Kind zu sein
GALLNEUKIRCHEN. Zu Weihnachten 1945 begann für viele Kinder ein neues Leben – sie hatten das Fest noch nie in Friedenszeiten erlebt.
Vor einigen Monaten war Alfred ein kampfbereiter Jungsoldat. Ausgebildet im Hantieren mit Granaten und Karabinern. Einsatzbereit für den großen Endkampf gegen den Feind. Doch als der Zehnjährige 1945 vor dem Weihnachtsbaum stand, fand er den Glauben an das Christkind wieder. Und lernte, wieder Kind zu sein.
"Für meine Generation ist 1945 ein Lebensfaden gerissen, ein neuer musste erst gesponnen werden. Vor acht Monaten wurde ich noch auf Führer, Volk und Vaterland vereidigt", sagt Alfred Zehetner. "Und wenig später warte ich kindlich auf das Glöckchen des Christkindes."
Germanisches Julfest
Der Vater war im Wald, um einen Christbaum zu holen, die Mutter machte letzte Besorgungen. Und Alfred trieb sich mit seinen Freunden am Ufer der Gusen herum. Wo die Soldaten einen Panzerfriedhof angelegt hatten.
"Am Ufer lagen ausgebrannte Panzer und Flugzeuge. Da gab es immer was zu entdecken, obwohl es auch gefährlich war. Manche Relikte explodierten", sagt Zehetner. "Trotz der Spannung, die Wartezeit auf das Christkind wollte nicht vergehen." Abends kündigte das Läuten des Glöckchens für den Zehnjährigen nicht nur das Kommen des Christkindes an. Sondern läutete auch eine neue Zeit ein. Für den Bub war Weihnachten ein germanisches Fest. Als Mitglied des Deutschen Jungvolkes und von NS-Propaganda indoktriniert hatte der Bub am 24. Dezember bisher nicht die Geburt Jesu Christi, sondern das germanische Julfest gefeiert.
"Als Wilhelm und ich dann endlich zur Bescherung durften, waren wir furchtbar aufgeregt", sagt Zehetner. "Der Christbaum hat uns schwer beeindruckt." Besonders groß oder hübsch aufgeputzt war das Bäumchen aber nicht. Ein paar Kerzen spendeten fahles Licht, Aluminiumstreifen schmückten die Zweige. Und erinnerten an den Krieg. Sie waren von US-Flugzeugen abgeworfen worden, um die deutschen Radargeräte zu stören. "Als wir die Geschenke sahen, wurden unsere Augen groß", sagt Zehetner. "Papa hatte uns ein Vogelhäuschen gebaut." Zur Mitternachtsmette schritt die Familie im Stillen. Die Kirchenglocken waren im Krieg für die Waffenproduktion eingeschmolzen worden.
"Doppelte Tragik"
Grete hatte eine Hauptrolle im Weihnachtsspiel ihres Kindergartens ergattert. "Ich war so stolz. Ich durfte ein Mädchen spielen, das seinen verstorbenen Vater im Wald sucht", sagt Grete Weißensteiner. "Ich begriff aber nicht, wie doppelsinnig diese Rolle war."
Denn während sich die kleine Grete auf ihren großen Auftritt vorbereitete, starb ihr Vater Ende November an Krebs. Ihre Mutter wollte sie nicht Theaterspielen lassen, verwehrte ihr die Rolle. Aber Ersatzbesetzung gab es keine, Grete musste auf die Bühne. "Ich spielte voll Hingabe, aber auch Verzweiflung, kein Auge blieb trocken. Es wussten natürlich alle, dass mein Papa gestorben war. Das war doppelte Tragik", sagt sie. Besonders gerührt waren zwei US-Soldaten in der ersten Reihe. Sie klopften einige Tage später zu Weihnachten an die Tür der Familie. In Schwarz gekleidet öffnete Gretes Mutter die Türe, die Kleine lugte schüchtern hinter ihrer Mama hervor.
"Sie suchten nach dem blonden Mädchen vom Weihnachtsspiel und drückten meiner Mama ein großes Paket in die Hand", sagt Weißensteiner. Konserven, Käse, Zuckerl und Schokolade waren darin, alles Sachen, die sich die Familie nicht leisten konnte. "Ich war mir damals sicher, dass die Männer direkt vom Christkind kommen", sagt die heute 79-Jährige.
Weihnachten ohne Mutter
Der vierjährige Rudi Prinz feierte Weihnachten mit seinen Tanten. Seine Mutter war zehn Tage nach seiner Geburt gestorben, der Vater in Kriegsgefangenschaft. "Sie haben geheimnisvoll getan und mich früh ins Bett gesteckt", sagt er. "Bei der Bescherung bin ich gehüpft vor Freude." Das Christkind hatte Rudi ein Paar Fäustlinge gebracht: "Ich wollte gleich raus und spielen. Aber musste bis zum nächsten Tag warten. Für kleine Kinder wie mich war es draußen schon zu dunkel."
Damit sie am Heiligen Abend nicht frieren, musste Helmut Kislinger im Wald Reisig sammeln. Sein Bruder war im Krieg gefallen, die Mutter gestorben, weil Medikamente knapp waren. Er und sein Vater feierten Weihnachten daher bei Verwandten. Das "Festmahl" war bescheiden: eine Handvoll Erdäpfel und Sauerkraut. Helmuts Highlight war eine Dose Dattelpudding, für jeden gab es vier Löffelchen voll. Gekauft hatten sie die amerikanische Konserve am Schwarzmarkt.
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Das war ein karges, aber glückliches Weihnachtsfest und deshalb kommt es einem Affront gleich, wenn heute darüber geklagt wird, wie schrecklich es nur in diesem Jahr sein wird, ohne Party, und ohne großer Weihnachtsfeier. Hier würde ein wenig Demut manchen Mitbürgern einwenig gut tun.
Die jetzige Generation ist nur hedonistisch