Die russische "Liga der Autobusse"
Nach den Erfolgen der "Sbornaja" bei der Weltmeisterschaft gibt es einen Zuschauerandrang in den Fußballstadien.
Russland feiert neue Fußballwunder. In der Qualifikation zur Europa League gewann Zenit Sankt Petersburg vergangenen Donnerstag nach einem 0:4 im Hinspiel das Rückspiel mit 8:1, WM-Held Artjom Dsjuba erzielte einen Hattrick. Allerdings gegen Dinamo Minsk, ein Team aus dem weißrussischen Fußballkrähwinkel. Der eigentliche Aufreger des Spieltages aber waren Schienbeinschützer in den ukrainischen Farben Blau-Gelb. Die entblößte Jewhen Chatscheridi, ukrainischer Legionär von PAOK Thessaloniki, nach dem Champions-League-Qualifikationsspiel gegen Spartak Moskau. Duma-Abgeordnete empörten sich über eine "offensichtliche Provokation". Spartak aber schied nach dem 0:0 aus.
Gut einen Monat nach dem Ende der WM herrscht in Russland wieder eifriger Spielbetrieb. Und die Begeisterung über die "Sbornaja", die bis ins Viertelfinale kam, beflügelt zumindest die Fans. Am vierten Spieltag der Premjer-Liga zählte footboom.com durchschnittlich 24.000 Zuschauer, 9000 mehr als 2017. Auch die zweite "Russische Fußballliga" boomt, die Heimspiele des Klubs Baltika im neuen Kaliningrader WM-Stadion besuchen im Schnitt 10.000 Fans, Mordowija Saransk mobilisiert sogar 25.000. Allerdings hängen die Teams in der Tabelle auf den Plätzen 17 und 15.
"Goldene Phase eröffnet"
"Die WM-Bauten und die gestiegene Aufmerksamkeit haben eine goldene Phase für den Profifußball eröffnet", sagt der Moskauer Sportexperte Samwel Awakjan den OÖN. "Die Frage ist, was die Ligen und der Verband daraus machen."
Atemberaubend ist Russlands Fußball noch nicht. Zu Saisonbeginn häufen sich Spiele mit minimaler Torausbeute. "Liga der Autobusse" titelt das Nachrichtenportal lenta.ru, eine Anspielung auch auf die ausgeprägte Defensive der Nationalelf bei der WM. Aber Spezialisten bezweifeln, dass das Gemauere, das selbst Weltmeister Frankreich veranstaltete, schon Mode macht. "Viel mehr taktischen Einfluss haben bei uns die Champions League, die Ideen von Trainern wie Guardiola oder Tuchel", sagt Awakjan. Klubs wie Spartak oder ZSKA Moskau starteten oft holprig in die Spielzeit, spielten aber grundsätzlich weiter auf Angriff.
Trotzdem sind ungelöste Strukturprobleme offensichtlich. Einerseits mangelt es an Geld, die Klubs der Premjer-Liga kassieren aus TV-Rechten durchschnittlich 1,8 Millionen Euro im Jahr – Englands Premier League schüttet pro Verein 113,6 Millionen Euro TV-Gelder aus. Fast alle russischen Klubs sind von großen Geldgebern abhängig: Von Gasprom, der russischen Eisenbahn oder Lukoil, ohne "Generalsponsor" droht Bankrott. So wie jetzt dem Viertletzten der Liga, Anschi Machatschkala. Der dagestanische Verein schwamm im Geld, bis der milliardenschwere Regionaloligarch Sulejman Kerimow das kostspielige Spielzeug 2016 abstieß. Und schon in der Sommerpause machte Pokalsieger FK Tosno dicht, auch der Verein war seinen Besitzern zu teuer geworden.
Nur vier private Klubs
Laut lenta.ru gibt es in der Premjer-Liga nur vier private Klubs, die meisten Vereine werden von Staatskonzernen oder aus Regionalhaushalten finanziert. Es mangelt an Finanzen, Traditionen, an erfolgreicher Nachwuchsarbeit und massenhaften Fan-Gemeinden. Bezeichnend der zur Saison neu gegründete Zweitligaklub Sotschi. Ein Rebranding von Dinamo Sankt Petersburg, das mit seiner Mannschaft ans Schwarze Meer umzog, wo das WM-Stadion Fischt leer stand. Immerhin, das Retortenteam belegt den 6. Platz und hat Chancen auf den Aufstiegskampf.