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Die gusseisernen Zähne des Gulags

Von Stefan Scholl, 19. Februar 2024, 05:55 Uhr
Die gusseisernen Zähne des Gulags
Das Straflager im Norden Sibiriens gilt als eines, in dem Grausamkeit des Wachpersonals zur täglichen Routine gehört. Bild: REUTERS

MOSKAU. Alexej Nawalny geriet als Gefangener in ein Straflager mit vielen grausamen Traditionen.

Die Wachmannschaften sähen aus wie im Kino. "Mit Maschinenpistolen, warmen Fäustlingen und Filzstiefeln. Und mit schönen, flauschigen Schäferhunden", postete Alexej Nawalny zu Weihnachten nach seinem Eintreffen in der Besserungskolonie Nr. 3. "Macht euch um mich keine Sorgen."

Alexej Nawalny ist tot. Er hat keine zwei Monate in der Kolonie Nr. 3 überlebt, einer Anstalt mit verschärften Haftbedingungen in der sibirischen Polarsiedlung Charp. Laut der russischen Strafvollzugsbehörde FSIN brach er am Donnerstag nach dem Hofgang tot zusammen, die Ursache ist völlig unklar.

Nawalnys Mutter und seinem Anwalt sagte man in der Kolonie, Nawalny sei einem "plötzlichen Todessyndrom" erlegen, der Staatssender RT spricht von einer Thrombose, der Telegramkanal Sota zitiert zwei anonyme Beamte des russischen Ermittlungskomitees, man habe Nawalny seit vergangenem August langsam vergiftet. Sein Leichnam war am Wochenende nicht auffindbar, was vermuten lässt, dass die Behörden etwas zu verbergen haben. Angeblich soll er zu einer neuen Autopsie nach Moskau gebracht werden.

Wieder 1000 Gefangene

Menschenrechtler machten sofort den Kreml für Nawalnys Tod verantwortlich – und sein berüchtigtes Vollzugssystem, ein Netz von über 700 sogenannten Besserungskolonien und über 200 Untersuchungsgefängnissen. Alexander Solschenizyn taufte es zu Sowjetzeiten Archipel Gulag (russisch abgekürzt für Lagerhauptverwaltung). Die Einwohnerzahl ist seit 2013 von fast 700.000 auf 266.000 Häftlinge im vergangenen Oktober geschrumpft, was Fachleute auf gesunkene Kriminalitätsraten und alternative Strafen für leichte Vergehen zurückführen. Aber seit Sommer 2022 wurden auch Zehntausende Strafgefangene für Putins Ukraine-Truppen angeworben. Und jetzt gibt es wieder über 1000 politische Gefangene, in der späten Sowjetunion waren es etwa 700.

Für die Öffnung des "Polarwolfs" 1961 nahm man Gebäude der früheren "Lagerabteilung" des Gulag-Bauprojekts Nummer 501 neu in Betrieb. Laut dem Blogger und Historiker Rustem Adagamow ließ Stalin hier eine Eisenbahnlinie verlegen, dafür insgesamt 34 Lager errichten. Ihre Insassen seien zu Tausenden umgekommen.

Grausamkeit hat hier Tradition. "Hier arbeiten die Enkel und Urenkel derer, die schon im Gulag Wache hielten", erzählte Michail, ein ehemaliger Insasse, der Zeitung Nowije Iswestija 2018. Neuankömmlinge würden zur Begrüßung zusammengeschlagen. "Sie droschen von allen Seiten mit Polizeiknüppeln auf dich ein, aus aller Kraft, auf Kopf, Hals oder Rücken."

Wie in allen Lagern wird um sechs Uhr geweckt, Leibesübungen, Frühstück, Appell, Arbeit, Mittagspause, Arbeit, Abendessen, Erziehungsmaßnahmen oder Staats-TV, zwei Kontrollen, eine Stunde Freizeit, Bettruhe ab 22 Uhr. Die tägliche Lebensmittelration eines Häftlings lässt sich der Staat laut dem Wirtschaftsportal RBK 72 Rubel, umgerechnet 72 Cent, kosten.

Für offene Hemdknöpfe droht Karzer, für Beschwerden auch. Der Karzer, in Russland Strafisolator genannt, ist ein 2-mal-2,5-Meter-Loch, in das bis zu sieben Häftlinge gepfercht werden. Das WC ist meist defekt, es herrschen Fäkaliengestank und im Winter Temperaturen um die zehn Grad.

Aber im Gegensatz zu Stalins Gulag haben es in Putins Kolonien prominente politische Gefangene oft leichter. Vor Alexej Nawalny saß schon Platon Lebedjew, Geschäftspartner des 2003 verhafteten Ölmilliardärs Michail Chodorkowskij, im "Polarwolf". Er las mehrere Oppositionszeitungen, die mit ein paar Tagen Verspätung aus Moskau eintrafen, die Anstaltsärzte behandelten ihn mit Respekt, selbst der Direktor überließ ihm einmal sein Büro für ein Treffen mit seinem Anwalt. In der Moskauer U-Haft hatte seine Gesundheit gelitten, in Charp besserte sie sich. "Meinen Tee", schrieb er der Nowaja Gaseta in einem Briefinterview, "trinke ich immer allein."

"Menschen werden erniedrigt"

Für "Politische", die regelmäßig von ihren Verteidigern und Menschenrechtlern besucht werden und mit Journalisten und Anhängern korrespondieren, blieben Willkür und Gewalt bisher meist auf Distanz. Zumindest, wenn sie Konflikte meiden.

Der Schriftsteller Maxim Gromow, der selbst drei Jahre als "Politischer" saß, landete wiederholt im Strafisolator, weil er sich für bessere Haftbedingungen einsetzte. "Es geht darum, Menschen zu erniedrigen, sie zu brechen", sagt er. Nach seiner Entlassung habe er zu trinken begonnen, jahrelang um sein Selbstwertgefühl gerungen.

Alexej Nawalny reichte über seine Anwälte immer wieder Klagen gegen die Lagerleitung ein, die Videoschaltungen aus dem Gefängnis zu den Gerichtsverhandlungen nutzte er für ironische Stand-ups, rief FSIN-Beamten auf, bei den Präsidentschaftswahlen gegen Putin zu stimmen.

Zumindest digital brach er immer wieder aus der Isolationshaft aus, um den Kreml zu attackieren. "Diese erbosten Schufte sind von der Idee besessen, das ganze Land in die Knie zu zwingen", schrieb er auf Telegram über die Verurteilung einer sibirischen Mitstreiterin zu neun Jahren Haft. "Aber sie stoßen immer wieder auf Leute, an denen sie sich die Zähne ausbeißen."

Die Zähne des Gulags jedoch sind gusseisern. Nawalny landete immer wieder im Strafisolator, meist waren Wortwechsel mit Wärtern der Anlass. Am Ende hatte er von über 1120 Tagen in Haft 308 Tage in der stinkenden Kälte des Karzers verbracht, ein mörderischer Rhythmus. "Nawalny hat ihnen den Handschuh hingeworfen", sagte Gromow. "Und die Staatsmacht hat den Handschuh aufgehoben: Du willst bis ans Ende gehen, gut, dann gehen wir bis ans Ende." Auch in Charp geriet Nawalny dreimal in den Karzer, zuletzt zwei Tage vor seinem Tod.

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Autor
Stefan Scholl
Russland-Korrespondent
Stefan Scholl
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