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"Ist das wahr?"

Von Christian Schacherreiter   11.Oktober 2019

Peter Handke erhält den Nobelpreis für Literatur 2019. Und das ist gut so! Denn die Begründung stützt sich in seinem Fall nicht auf Kriterien, die mehr mit politischer Korrektheit zu tun haben als mit literarischer Wertung. So gut die Entscheidungen der Juroren in den vergangenen zwei Jahrzehnten gemeint waren, nicht immer stand die künstlerische Qualität der Ausgezeichneten im Vordergrund.

Bei Handke ist das anders. Schon seine frühen Arbeiten aus den sechziger Jahren überzeugten nicht durch zeitgeistige Wendigkeit oder ideologische Anbiederung, sondern vor allem durch ein bewundernswertes Form- und Sprachbewusstsein und eine gewisse Kompromisslosigkeit, wenn es darum ging, eigene poetologische Vorstellungen umzusetzen.

Durch die Erwartungshaltung von Publikum und Kritik war er nur selten zu verunsichern. In seinem Debütroman "Die Hornissen" (1966) durchkreuzte Handke alle Erwartungen, die der durchschnittliche Romanleser hat. Man kann keiner linear aufgebauten Handlung folgen, die Figuren erhalten kein psychologisches Profil. Mit Mühe, aber ohne letzte Sicherheit entnimmt man den 67 Kurzabschnitten dieses – nun ja – "Romans", dass es um zwei Brüder gehen könnte, von denen einer ertrunken ist. Der andere dürfte das Augenlicht verloren haben.

Video: Verleger Jochen Jung, Schauspieler Martin Schwab, Berhnard Fetz, der Leiter des Literaturarchivs in der Nationalbibliothek, und Literaturwissenschafterin Daniela Strigl sprechen über die Entwicklung Peter Handkes.

Verärgerung und Faszination

Aber damit noch nicht genug. Handke schildert das Geschehen aus der Perspektive des erblindeten Bruders, der sich daran erinnert, vor seiner Erblindung einen Roman gelesen zu haben, in dem es um zwei Brüder geht, von denen einer ertrinkt … Ist also das Geschehen nur literarische Fiktion? Die einen waren verärgert über diese Literatur, die anderen von ihr fasziniert. Handke war immer ein Autor, der polarisierte, aber kalt ließ er niemanden, auch nicht die renommierten Autorinnen und Autoren, die sich im Jahr 1966 zur traditionellen Tagung der berühmten Gruppe 47 in Princeton trafen.

Plötzlich stand da ein 24-jähriger, langhaariger Nachwuchsautor aus Kärnten auf und kritisierte frech die "Beschreibungsimpotenz" der Anwesenden. Dass diese Tagung die letzte der Gruppe 47 war, signalisiert das Finale der Nachkriegsliteratur.

Theaterskandal unter Peymann

Etwas Neues entstand – und Handke war einer der Pioniere. Zu einem handfesten Theaterskandal führte die Uraufführung von Handkes Sprechstück "Publikumsbeschimpfung" in der Regie des jungen Claus Peymann (Frankfurt, Theater am Turm 1966).

So wie Handke mit "Die Hornissen" den Erzählrealismus des traditionellen Romans ausgehebelt hatte, so missachtete er mit der "Publikumsbeschimpfung" wieder einmal alle Prinzipien einer Dramatik, die als Nachahmung einer tragischen oder komischen Handlung das Publikum berühren oder erheitern will. Es gibt keine Figuren, sondern Sprecher, die mit dem Publikum in Interaktion treten. Thema des Stücks ist das Publikum selbst.

Dennoch ging es Handke, obwohl er von der Pop-Kultur der Sechzigerjahre beeinflusst war, nicht um vordergründige Provokation. Als die "Publikumsbeschimpfung" zum erfolgreichen Klamauk zu verkommen drohte, untersagte er weitere Aufführungen (bis 1983). Und ab den frühen Siebzigern ließ er die aufsehenerregenden Experimente hinter sich. Mit dem Roman "Der kurze Brief zum langen Abschied" (1972) griff er wieder auf das Erzählen zurück und erwies sogar dem traditionellen Bildungsroman seine Referenz: Goethes "Wilhelm Meister", Kellers "Grünem Heinrich".

Als der Zeitgeist von 68 das "politische Engagement" der Autoren forderte, schrieb Handke "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms". Aus dieser Zeit kommt auch das wahrscheinlich meistgelesene Werk des Autors, die Erzählung "Wunschloses Unglück" (1972), in der Handke den Freitod seiner Mutter zum Thema machte.

Die überragende Bedeutung dieser Erzählung, die sie aus der Fülle der autobiographischen Literatur der siebziger Jahre heraushebt, besteht darin, dass ausgerechnet Handke, dieser Meister der Worte, nachvollziehbar macht, wie schwer es ist, eine Sprache und eine Erzählform für die Beschreibung eines nur scheinbar unauffälligen Frauenlebens zu finden. Die Kärntner Provinz, der Nationalsozialismus, die Hoffnungen der Jugend und ihre Enttäuschungen, das Fiasko einer Ehe, die Einsamkeit einer Frau mit ihrer ungewollten Schwangerschaft – welche Worte, welche Sätze werden dieser Wirklichkeit gerecht? Peter Handke ist ein dermaßen produktiver Autor, dass man das umfangreiche und vielfältige Werk aus den letzten Jahrzehnten nur durch einige exemplarische Hinweise würdigen kann. Zu erwähnen sind die Tagebücher und Journale (u. a. "Die Geschichte des Bleistifts"), die Theaterstücke, die Romane und Essays (u. a. "Versuch über den geglückten Tag").

Poesie des Erzählens

Im Laufe der Siebzigerjahre entwickelte Handke einen unverwechselbaren Stil, weder Sprachexperiment noch Realismus, sondern eine einzigartige Poesie des Erzählens für Buch und Bühne, die gerne ins Mythische greift, ohne trivial und esoterisch zu werden.

Die umfangreichen Romane "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (1994), "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" (2002) und "Die morawische Nacht" (2008) repräsentieren diese originale Handke-Poetik. Ihr Erlebniskern ist, ähnlich wie bei den Romantikern, oft der Verlust von Ursprünglichkeit, Erlebnistiefe und mystischer Einheit, von Geheimnis und Zauber, ein Preis, den wir für den zivilisatorischen Fortschritt zahlen.

Peter Handke ist kein Realitätsverweigerer, kein Weltflüchtling. Wie bestimmt er sich ins tagespolitische Geschehen einschalten kann, zeigte sein öffentliches Auftreten während des Balkankriegs in den Neunzigerjahren. Mit seinem Essay "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" wandte er sich gegen die seiner Meinung nach einseitige Verurteilung Serbiens durch westeuropäische Medien.

Seiner medienkritischen Analyse konnte man durchaus noch folgen, ratlos hinterließ er aber auch viele gutwillige Leser mit seiner eindeutigen Parteinahme für politische und militärische Machthaber, deren Verbrechen nicht mehr ernsthaft bestritten werden konnten. Wieder einmal hatte der Poet einen Skandal ausgelöst, der das Feuilleton wochenlang beschäftigte.

Möglicherweise hat Peter Handke seinen Hang zum Mythisieren, der in der fiktionalen Literatur völlig legitim ist, auf die politische Wirklichkeit übertragen, ohne sich der daraus resultierenden Problematik bewusst zu werden. Das alte Jugoslawien, der Vielvölkerstaat der Slawen, war für Handke immer schon etwas Besonderes gewesen, ein Land, auf das er auch soziale Utopien projizierte.

Poesie ist aber eine Sache, Politik eine andere. Es gibt Autorinnen und Autoren, die Leser haben, und es gibt solche, die Lesergemeinden haben. Peter Handke hat eine Gemeinde, denn seiner Person und seinem Werk haftet eine Aura des Außergewöhnlichen an. Person und Werk verschmelzen zum kulturellen Phänomen. Das schaffen nur wenige Künstler, und nur solche, die auf der Grundlage ihrer Hochbegabung konsequent ihren Weg gehen. Weil er solch ein Künstler ist, erhält Peter Handke den Nobelpreis für Literatur 2019. Und deshalb ist das gut so!

 

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05. Mai 2024