Lade Inhalte...
  • NEWSLETTER
  • ABO / EPAPER
  • Lade Login-Box ...
    Anmeldung
    Bitte E-Mail-Adresse eingeben
    Bitte geben Sie Ihre E-Mail-Adresse oder Ihren nachrichten.at Benutzernamen ein.

Wenn ein Bächlein zur Todeszone wird

Von Clemens Schuhmann   10.November 2019

Der Tannbach, der seit Menschengedenken durch das Örtchen Mödlareuth fließt, ist nur 20 bis 40 Zentimeter breit. Und doch trennte das Flüsschen, das heute die deutschen Bundesländer Bayern und Thüringen durchschneidet, jahrzehntelang West und Ost, Kapitalismus und real vegetierenden Sozialismus sowie Bundesbürger und DDR-Bewohner.

Dieses geteilte Dorf war bis zum Fall des Eisernen Vorhangs Zankapfel und Spiegelbild des Kalten Krieges. Hier konzentrierten sich Wahnsinn und Perfidie des DDR-Grenzregimes auf kleinstem Raum. Die Bewohner dies- und jenseits des Tannbachs waren von 1952 bis Ende 1989 durch eine mehrere Meter hohe Betonmauer getrennt. So wie in Berlin, daher wurde Mödlareuth von den Amerikanern auch gerne "Little Berlin" genannt. Die beiden Ortsteile waren Bestandteil zweier verschiedener Staaten sowie zweier unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und militärischer Systeme. Und an der unüberwindbaren Wand war die jeweilige Welt zu Ende.

Wenn ein Bächlein zur Todeszone wird
Sperranlagen wie in Berlin, weshalb Mödlareuth häufig "Little Berlin" genannt wurde.

Alltagsleben nicht beeinträchtigt

Das war nicht immer so: Im Jahr 1810 wurden zwar entlang des Tannbachs neue Grenzsteine gesetzt – die eine Seite gehörte zum Königreich Bayern, die andere zum Fürstentum Reuß. Nach Ende des Ersten Weltkriegs ging der Westteil in den Freistaat Bayern über, der Ostteil in den Freistaat Thüringen. Der Bach war dabei jedoch stets nur eine Verwaltungsgrenze, die das Alltagsleben der Mödlareuther kaum beeinträchtigte. Wirtshaus und Schule befanden sich im Ostteil, den Gottesdienst besuchte man in Bayern. Das war selbstverständliche, geübte Praxis.

Das änderte sich mit der Gründung der beiden deutschen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch Zug um Zug: Die DDR sicherte die innerdeutsche Grenze immer besser ab, um ein Ausbluten durch die zahlreichen Flüchtlinge zu unterbinden. Und so verlief in Mödlareuth bald eine mit riesigem Aufwand gesicherte Betonmauer inklusive Stacheldraht, Wachtürmen und schließlich sogar Selbstschussanlagen. Da war der Tannbach dann nicht mehr nur ein Bächlein, das Gebiet war vielmehr eine Todeszone.

Wenn ein Bächlein zur Todeszone wird
Dieser russische Panzer vom Typ T-34 steht immer noch beim großen Besucherparkplatz in Mödlareuth.

Selbst Winken war untersagt

Die Sperranlage, die die DDR-Bürger vor dem Imperialismus schützen sollte, war in der Nacht in gespenstisches Licht gehüllt. Der Beobachtungsturm war rund um die Uhr von DDR-Grenzern besetzt. Kontakt zwischen den Bewohnern dies- und jenseits der schwer bewachten Systemgrenze durfte es fortan nicht mehr geben, selbst das Winken war untersagt. Und es gab ein nächtliches Ausgangs- und Versammlungsverbot. Man verständigte sich dennoch – etwa durch Kerzen, die gut sichtbar in die Fenster gestellt wurden. Feste wurden zwar gleichzeitig, aber räumlich getrennt begangen. Also gab es stets zwei Maibäume und zwei Christbäume – je einen im Westen und einen im Osten.

Nur ein Fluchtversuch glückte

Die weiß angestrichene Beton-Sperrmauer war doppelt und dreifach abgesichert, sodass in Mödlareuth in all den Jahren nur eine Flucht glückte. Am 25. Mai 1973 konnte ein 34 Jahre alter DDR-Bürger dank Passierschein und seiner Ortskenntnisse mit seinem Kleintransporter Barkas B-1000 bis an die Mauer heranfahren. Mithilfe einer auf das Fahrzeugdach gestellten Leiter konnte Hans-Jürgen S. schließlich unverletzt in den Westen gelangen.

Die DDR-Grenzposten hatten den Flüchtling zwar bemerkt, aber nicht sofort geschossen. Für die Soldaten hatte das erhebliche disziplinäre Konsequenzen – und sie wurden fortan intensiv in der "politisch-ideologischen Arbeit zur bedingungslosen Anwendung der Schusswaffe nach Dienstvorschrift" geschult. Um weitere DDR-Bürger vom "Rübermachen" abzuhalten, wurde die Sperranlage in Mödlareuth weiter verstärkt – etwa durch die Errichtung eines einreihigen, 3,20 Meter hohen Metallgitterzauns mit aufgesetztem Signalteil auf einer Länge von 700 Metern parallel zur Mauer.

Die Mauer fiel etwas zeitversetzt

Das surreal anmutende Grenzregime in Mödlareuth endete mit dem Fall der Berliner Mauer – in "Little Berlin" selbst wurde die Mauer aber erst am 9. Dezember 1989 löchrig bzw. durchlässig. Bis dahin konnte man nur über Umwege vom West- in den Ostteil von Mödlareuth und umgekehrt gelangen. Ein unmittelbarer Grenzübertritt im Ort selbst war vorerst nicht möglich. Am 17. Juni 1990 wurde die Mauer schließlich zum Großteil abgetragen.

  • 700 Meter war die Sperranlage in Mödlareuth lang. Original erhalten ist heute noch ein Großteil davon – die Betonmauer, der Metallgitterzaun und der Beobachtungsturm. Es gibt zudem ein Museum und eine Ausstellung von Fahrzeugen aus der DDR und der BRD.

  • 1990 wurde das Museum gegründet. Es ist von 1. März bis 31. Oktober von 9 bis 18 Uhr geöffnet (Dienstag bis Sonntag; Montag nach Vereinbarung), in der restlichen Zeit von 9 bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet für Erwachsene drei Euro, für Kinder zwei Euro. Inkludiert sind der Zugang zum Freigelände, der Besuch der Ausstellungen sowie das Museumskino (der Film „Alltag an der Grenze“ läuft zu jeder halben und vollen Stunde). Weitere Infos unter www.moedlareuth.de

  • „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“ ist der Titel einer sechsteiligen TV-Serie, die das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) produziert hat. Sie erzählt die Geschichte eines fiktiven Dorfes von 1945 bis 1968; reales Vorbild war das Dorf Mödlareuth.

copyright  2024
27. April 2024