Lade Inhalte...
  • NEWSLETTER
  • ABO / EPAPER
  • Lade Login-Box ...
    Anmeldung
    Bitte E-Mail-Adresse eingeben
    Bitte geben Sie Ihre E-Mail-Adresse oder Ihren nachrichten.at Benutzernamen ein.

"Ich war ganz allein auf 80.000 Quadratmeter"

Von Reinhold Gruber   21.Jänner 2022

Im November 2011 war er zum ersten Mal auf dem Areal, ein paar Wochen später fand sich Chris Müller in der Funktion eines "Zwischennutzungskoordinators" für die von der Stadt Linz erworbene Tabakfabrik wieder. Es war der Beginn einer Geschichte, die nicht nur das alte Industriegelände in einen Ort der kreativen Begegnung verwandelt hat, sondern auch den Mann an der Spitze zu einem anderen werden ließ, der er noch vor zehn Jahren war. Das sagt Müller selbst, der von Anfang an dabei ist. Mit den OÖNachrichten sprach er zum "Jubiläum" über Visionen, Träume und Erkenntnisse.

OÖN: Wissen Sie noch, wo Sie der Ruf aus Linz ereilt hat?

Chris Müller: Ja. Ich war in meiner alten Heimat Berlin, als ich den Anruf bekam. Es ging um die Zwischennutzung der Tabakfabrik. Ich fuhr nach Linz zu einem Gespräch, und danach wurde ich von der Stadt für 20 Stunden angestellt.

Welche Gedanken hatten Sie damals beim Gang durch das Haus?

Es war alles leer, ein riesiges Vakuum, aber ich war elektrisiert davon. Das hatte sicher mit der Geschichte des Hauses zu tun und damit, dass ich mich bei meinem Studium der Bildhauerei an der Kunstuniversität immer mit dem Raum auseinandergesetzt habe. Und plötzlich stand ich mitten in einem gigantischen Stadtraum.

Haben Sie das Potenzial der alten Fabrik da schon erkannt?

Ich habe Riesenglück gehabt, weil ich zum richtigen Zeitpunkt an einen Ort gekommen bin, der bereit für Veränderung war. Doch auch wenn ich darüber rede, so ist es doch eine hundertprozentige Mannschaftsleistung. Es geht immer nur gemeinsam.

Am Anfang waren Sie der einzige Mensch auf dem Areal. Wieso?

Ich habe mit meiner Familie (Müller ist verheiratet und Vater von zwei Kindern, Anm.) vereinbart, dass ich während der Woche in Linz bleibe. Im fünften Stock, wo früher die Näherei war, habe ich auf einer Matratze geschlafen. Allein das zeigt schon, welchem Wahnsinn ich verfallen war. Ich war gefesselt vom Raum, habe von der Früh bis in die Nacht gearbeitet, und ich war ganz allein auf 80.000 Quadratmeter.

Hätten Sie sich vor zehn Jahren vorstellen können, wo Sie heute mit Ihrem Team sind?

Was das Areal betrifft, schon, nicht im Detail, aber dass es etwas wird, das ausgelastet sein wird und international wirkt, davon war und bin ich überzeugt. Aber ich habe mir die eigene Position nicht vorstellen können.

Der Geist der Tabakfabrik ist spürbar, man fühlt sich beim Besuch wie in einem kreativen Kraftwerk. Spüren Sie das auch?

Es ist faszinierend. Ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das man sich selbst immer gewünscht hat, wo das geschätzt wird, was man kann, wo Menschen manchmal ein wenig anders oder auffällig sein dürfen. Ein soziales Ökosystem mitentwerfen zu können, ist natürlich ein Traum. Ich habe immer ein klares Unternehmerbild gehabt. Ich wollte stets aussehen wie Fiat-Chef Gianni Agnelli, der für mich schon als Kind eine Erscheinung war, ein Typ, stylisch, ein adeliger Kreativer. Aber ich wollte handeln wie Robert Bosch, sozial sein und schauen, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Das ist so eine Art Leitgedanke für mich geworden.

Sie sind Direktor für Entwicklung, Gestaltung und künstlerische Agenden der Tabakfabrik Linz, also ein Fabriksdirektor?

Ich habe mir immer gedacht, Fabriksdirektor ist das Größte, was man sein kann. Man geht durch die Hallen, grüßt die Menschen, fragt sie, wie es ihnen geht. So erreicht man die Menschen. Das ist auch die Kraft der Fabrik, dass es nicht nur um Technologie geht, sondern dass es eine Vision ist, die die Stadt und die Menschen verändern kann. Ein Haus kannst du umbauen oder wegreißen, eine Vision nicht.

Was haben die zehn Jahre mit Ihnen selbst gemacht?

Durch den Wellengang der zehn Jahre weiß ich, dass man durch die Gegebenheiten Kapitän wird. Das ist eine wichtige Erfahrung, die mir Kraft gibt. Persönlich bin ich viel resilienter geworden, weil ich schnell wieder in den Modus komme, nach Lösungen zu suchen und nicht Probleme zu finden. Teamplayer in einem Riesengetriebe zu werden, ist nicht einfach, aber es ist ein Glücksgefühl.

Leben Sie Ihren Traum?

Erleben zu dürfen, dass sich ein persönlicher Lebenstraum erfüllt, dass es besser wird, als es man sich je vorstellen hätte können, das ist für einen Schulabbrecher unvorstellbar. Ich staune manchmal nur darüber. Gleichzeitig ist das unglaublich motivierend. Ich hoffe, dass menschlich übrig bleibt, dass ich mich gekümmert habe, es wirklich versucht habe, Leute mitzureißen. Mein Lohn ist, dass ich Dinge machen kann, ohne tausend Mal nachfragen zu müssen. Deshalb bin ich Feuer und Flamme. Jeden Tag schauen wir, dass etwas weitergeht und besser wird.

Was würden Sie als Ihre Stärken, was als Ihre Schwächen sehen?

Das Beste, was ich für mich machen konnte, war, einer Gabe zu folgen. Ich kann Dinge und ich kann Dinge nicht. Aber ich bin immer dem gefolgt, was ich kann. Wer zu viel Plan B hat, verfolgt den Plan A nicht mit aller Kraft. Ich bin immer dem Plan A gefolgt, das ist eine Sache des Naturells. Dem zu folgen, woran man glaubt. Dadurch hältst zu Zeiten durch, die nicht so lustig sind.. Schwächen gibt es sicher viel mehr als Stärken, aber man muss mit den Stärken durchkommen und die ausbauen. Komischerweise ist die Stärke, ganz lange Zeiträume mit voller Kraft durchzuhalten und die Schwäche ist sicher die Ungeduld, Vielleicht bedingt sich das miteinander. Ein Arzt hat einmal zu mir nach eine Vorsorgeuntersuchung gesagt: Sie springen auf ein Pferd und reiten in alle Richtungen davon (lacht). Das ist sicher eine persönliche Schwäche.

Kann Sie noch etwas überraschen?

Früher war ich als Künstler oft enttäuscht davon, dass meine Vorstellung von einer Büste oder einem Bild am Ende 90 Prozent schlechter geworden ist, als ich es mir vorgestellt habe. Ich bin aber draufgekommen, dass Ideen durch Kollaboration mit Menschen tausend Mal besser geworden sind, als ich es mir vorgestellt habe. Wenn ich etwas vorgebe und dann etwas viel Besseres dabei herauskommt, weil so viele Menschen mitdenken, das ist für mich immer wieder eine Überraschung.

Ab Mai arbeiten 3000 Menschen hier

„Von dem, was uns vorschwebt, ist erst ein Drittel realisiert“, sagt Chris Müller. Mit anderen Worten: Es kommen noch zwei Drittel dazu, ehe die Transformation des Industrieareals in ein modernes Zentrum der Kreativität abgeschlossen sein wird.
Das Kraftwerk (mit der Linzer Brauerei), das Mittelmagazin und das ART Magazin werden heuer fertiggestellt. „Bis auf den Bau 3 übergeben wir im Mai dieses Jahres alles.“ Rund 3000 Menschen werden dann schon in der Tabakfabrik arbeiten. Alle verfügbaren Flächen sind mit 2022 vermietet.

Bis 2025 sollen die Außenflächen des Areals begrünt und autofrei werden sowie der Neubau des Quadrill-Projektes abgeschlossen sein. Letztendlich werden in drei Jahren hier 5000 Arbeitsplätze und 500 Wohnmöglichkeiten angeboten.
Dass die Stadt Linz 2009 die geschlossene Tabakfabrik gekauft hat, um das Areal zu entwickeln, erweise sich jetzt als Glücksfall, sagt Müller. Denn mit dem steigenden Stellenwert der kreativen Industrie würden auch andere Städte die Bedeutung der Kreativwirtschaft erkennen. Doch sie haben im Unterschied zu Linz kein passendes Areal.

In der Tabakfabrik, dem „ersten kollaborativen Konzern der Welt“ (Müller), denkt man bereits daran, wie das gesamte Angebot digitalisiert werden kann. Ziel ist eine App, mit der sich vom Raum über den Tausch technischer Geräte bis zum „Ausborgen“ von Personal alles checken lässt.

copyright  2024
27. April 2024