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"Ich habe einen Lachanfall gekriegt"

Von Bernhard Lichtenberger   09.November 2019

"Die Kindheit war eine schöne", sagt Kerstin Quas, die ihre ersten drei Lebensjahre in Treuen im Vogtland verbracht hat – in einer Zweizimmerwohnung mit Kaltwasserhahn "und dem Plumpsklo auf halber Strecke". In Dresden, wohin sie mit den Eltern, einem Kesselbauer und einer Weißnäherin, gezogen war, kam sie in der achten Klasse zum ersten Mal mit dem System in Berührung. Da wurde ihr Berufswunsch, Lehrerin zu werden, glatt abgelehnt. Sie sei "aus politisch-ideologischen Gründen nicht reif".

Zu den Kriterien des Lehrerinstituts gehörte, sich in der Schule als Klassensprecher oder Kassier engagiert zu haben. "Da war ich nie dabei, aber ich habe im Chor gesungen, die Patenschaft für Erstklassler übernommen und Stunden gehalten, wenn eine Lehrervertretung ausgefallen ist", erzählt die 55-Jährige. Als man ihr erklärte, sie könne sich in einem Jahr noch einmal bewerben, "war ich so angefressen, dass ich sagte: Wenn Sie mich jetzt nicht haben wollen, im nächsten Jahr will ich nicht".

Im Nachhinein war sie froh über die ideologischen Prügel, die ihr vor die Füße geworfen wurden, denn Pädagogen waren die ersten, denen die Wende nicht gut bekam: "Die Grundschullehrer, auf Sozialismus getrimmt, wurden fast alle entlassen." Der Vater, der den Ingenieur im Bauwesen im Abendstudium nachgeholt hatte und viele Verbindungen pflegte, legte ihr die Rutsche ins Verkehrs- und Tiefbau-Kombinat, wo sie zur technischen Zeichnerin ausgebildet und nach Cottbus zum Studium an die Fachhochschule für Ingenieurwesen für Hoch- und Tiefbau entsandt wurde.

Was ihr dort massiv begegnete, etikettiert Kerstin Quas mit einem eigenen Wort: "Rotlichtbestrahlung". "Es gab das Fach Marxismus-Leninismus, da mussten wir Marx und Lenin lesen und aus ihren Pamphlets Exzerpte erstellen." Sie entnahm von Lenin Punkte, die sie für klug hielt, "aber das war total konträr zu dem, was wir in der DDR lebten. Also hieß es: setzen, fünf, noch einmal. Also hat man sich verstellt und gemacht, was sie hören wollten".

Pfingsten 1989 fuhr die Ingenieurin mit einer Freundin nach Prag. Dort begegnete sie einem Oberösterreicher, "in dessen Sprache ich mich mitverliebt habe" und zu dem sich mehr als ein Briefkontakt entwickelte. Zum Leidwesen der Eltern stellte die 25-Jährige einen Ausreiseantrag. "Da saß eine Kommission im Dunkeln und ich im Hellen, wie im ,Polizeiruf 110’. Da musste man sich tausend Fragen anhören – warum, wie kennengelernt, wie ist das Verhältnis. Da war ich ein bisschen frech und hab gesagt: ,Wollt’s die Stellung auch noch wissen?’ Dann haben sie mich entlassen, und ich hab nichts mehr von denen gehört."

Für die Landsleute geschämt

Also ging sie weiter arbeiten und mit dem Vater zu den Montagsdemonstrationen, "denn ich wollte, dass sich etwas ändert". Die historische Nacht hat sie aber verschlafen. "Am nächsten Morgen kam eine Freundin ins Büro und sagte: ,Du, die Mauer ist gefallen.’ Ich habe einen Lachanfall gekriegt. Ich hab’s nicht geglaubt." Mit der ersten Fahrt nach Westberlin ließ sie sich Zeit, und auch die 100 D-Mark, die DDR-Bürger geschenkt bekamen, holte sie sich nur nach langem Zögern ab: "Ich hab mich dafür geschämt, auch für meine eigenen DDR-Bürger, die die Bananen in sich hineingefressen und Schalen fallengelassen haben, als wären wir die ärgsten Hinterwäldler. Das hat mich so entsetzt, dass ich mit meiner Freundin gleich wieder nach Ostberlin zurück bin."

Euphorie kam erst auf, als ihr bewusst wurde, dass sie nun ja nach Österreich reisen könne. "Dann war der Wow-Effekt da, als ich das erste Mal auf der Landstraße mit Weihnachtsbeleuchtung gegangen bin. Da dachte ich mir: Das ist jetzt der Westen, das sieht gut aus, das gefällt mir. Der österreichische Schmäh und die Gelassenheit, das hat mir alles zugesagt", sagt die verheiratete Steyreggerin, die 1996 als Bauingenieurin bei VAI angefangen hat und nun für Primetals tätig ist. Nur der Aufmarsch am 1. Mai versetzte der Neuangekommenen einen kleinen Schock. "Jetzt bist du vom Regen in die Traufe gekommen, dachte ich mir. Bis ich bemerkt habe, dass die das freiwillig machen."

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