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Flucht nach oben: Wie Ehsan auf dem Traunstein heimisch wurde

Von Gabriel Egger   12.Juni 2021

Kaspressknedln, Hüttengröstl, a hoibe Bier – das alles lasse sich problemlos aussprechen, sagt der junge Mann mit dem breiten Lächeln und der bunt gemusterten Schürze, als wäre er von klein auf mit Österreichs Küche vertraut. Nur beim Hochdeutsch merke er, dass er noch lange nicht alle Hürden der deutschen Sprache übersprungen hat. Zu oft und zu schnell kippe er in den Dialekt, der hier oben den Ton angibt.

Der Traunstein hat sich gerade das dicke Wolkenkleid abgestreift, als Ehsan Kalantari zu den Tellern greift. Draußen, auf der Terrasse der Gmundner Hütte, trocknet die Sonne langsam den Juniregen auf. Nachmittagszeit ist Vorbereitungszeit – auf den Hüttenabend, der heuer erst drei Wochen verspätet wieder möglich wurde. Salat wird angerichtet, Suppe aufgekocht, frisches Obers für die Mehlspeisen geschlagen. Für den Iraner, der am 3. Juni seinen 32. Geburtstag gefeiert hat, beginnt die dritte Saison auf dem steinernen Wächter des Salzkammergutes. Kochen, putzen, Lager und Zimmer auf Vordermann bringen, das Gespräch mit den vielen Gästen suchen, die täglich auf einem der drei Wege zur Stärkung in die Hütte kommen: Vorfreude und Tatendrang sind Kalantari anzusehen. Er sei glücklich, nach sechs Monaten Pause endlich wieder hier zu sein. Bei seinen Kollegen, die zu engen Freunden geworden sind.

Flucht nach oben
Hüttenwirt Gerald Auinger und Ehsan Kalantari vor der Gmundner Hütte

Zuversicht ist ein Gefühl, das Kalantari erst wieder kennenlernen musste. Zu lange war die Zeit, in der die Angst die Hoffnung überwog. Dabei sind die Erinnerungen, die Kalantari an sein Leben im Iran hat, nicht ausschließlich schlecht. Im Gegenteil: Es gab Zeiten, da fühlte er sich dort geborgen, wo er schließlich nicht mehr bleiben konnte.

Kalantari wächst mit seinen beiden älteren Geschwistern in Schiraz auf, der Hauptstadt der Provinz Fars, im Süden des Landes. Weil die Stadt auf einer Seehöhe von 1500 Metern im südlichen Zagros-Gebirge liegt, kommt er früh mit den Bergen in Berührung. Loslassen werden sie ihn nicht mehr.

Im Alter von drei Jahren steht Kalantari auf seinem ersten Gipfel, mit sieben oft und lange an den Fenstern seines Elternhauses. Immer wieder mustert er die Wände des Koohsorkh und fragt sich, wie es wohl sein würde. Es dauert nicht lange, bis er auch diese 1100 Höhenmeter hinter sich bringt. Während der Schule hält sich Kalantari mit Fußball fit, versucht sich vermehrt im Ausdauersport. Doch über allem bleiben die Berge.

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Ehsan beim „Aid-Climbing“ im Dena-Gebirge. Damals war er 17 Jahre alt.

Mit 14 Jahren entdeckt Kalantari den organisierten Bergsport und steht bald auf dem Gipfel seines ersten Viertausenders. Der Bergverein "Golestan" nimmt ihn in einem Drei-Tages-Marsch auf den Pazan e Pir (4280 Meter) mit.

"Ich war überhaupt nicht müde, weil ich so voller Adrenalin war, und habe sofort nach jedem Gipfel gefragt, den ich sehen konnte. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Es war einfach großartig und ich dachte, es ist der Anfang von etwas Wunderbarem", sagt er.

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Ehsan (o.r.) mit 14 Jahren mit einem iranischen Bergverein

Mit 15 Jahren legt er die knapp 3000 Höhenmeter auf den Gipfel des Damawand (5610 Meter) an nur einem Tag zurück. Dann zieht Kalantari um. Nach Isfahan, rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Teheran, seine Eltern bleiben in Schiraz. Seine Leidenschaft ist auch nach dem Umzug ungebrochen: Er macht eine Ausbildung zum Hochtoureninstruktor, lernt Kindern und Erwachsenen im Bergverein das Klettern und engagiert sich in Organisation und Tourenführung. 2015 wird er schließlich mit dem iranischen Bergsteigerpreis für die herausragendste alpinistische Leistung des Vorjahres ausgezeichnet: In neun Tagen überschreitet Kalantari 44 Viertausender des Dena-Gebirges – im Winter. Doch zu diesem Zeitpunkt ist sein Leben längst nicht mehr unbeschwert.

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Ehsan (2.v.r) mit anderen Bergsteigern nach seinem ersten 3000er im Winter

Verhaftet und auf schwarzer Liste

Es verändert sich im Juni 2009 nachhaltig. Kalantari studiert zu diesem Zeitpunkt Sport-Management an der Tarbiat Modares Universität in Teheran, will nach seinem Master-Abschluss Lehrer werden und Kindern Sportunterricht geben. Sein fünf Jahre älterer Bruder Akbar hat sein Studium bereits abgeschlossen und arbeitet als Fotograf.

Als der umstrittene Präsident Mahmud Ahmadinedschad wiedergewählt wird, fotografiert er die öffentlichen Demonstrationen gegen ihn – und schickt die Fotos an Medien aus Großbritannien und den USA. Das iranische Regime stuft das als Verrat ein – Akbar wird verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auch Ehsan steht ab sofort unter ständiger Beobachtung.

Polizei und Geheimdienst prüfen, mit wem er sich wo trifft, sehen in ihm eine mögliche Gefahr für die nationale Sicherheit. "Mir war immer egal, mit wem ich unterwegs war. Christen, Juden, Muslime. Was macht das für einen Unterschied?", sagt Ehsan heute. Eine Einstellung, die im Iran nicht toleriert wird.

Als Akbar nach einem Jahr freikommt, wird der Druck, den das Regime auf ihn ausübt, bald zu groß. 2013 flüchtet er in die Türkei. Ehsan bleibt zurück und rückt weiter in den Fokus. "Ich wurde festgenommen, weil man prüfen wollte, ob ich bei meinen Bergtouren auch Christen mitnehme", sagt er. Immer wieder wird er über den Verbleib seines Bruders befragt, willkürlich werden Maßnahmen verhängt. Als er schließlich auch noch auf die schwarze Liste der Regimegegner gesetzt wird und damit jegliche Chance auf eine öffentliche Anstellung verliert, sieht Ehsan keine Zukunft mehr in diesem Land. "Die Gesetze hier sind gegen jede Menschlichkeit, du kannst nicht über Probleme reden, ohne mit Strafen zu rechnen, Journalisten werden verhaftet und Frauen schlecht behandelt. Ich musste mich entscheiden. Entweder ich bleibe hier, mit viel Angst und ohne Perspektive. Oder ich gehe", sagt er.

Vom Lehrer zum Rasenmäher

An einem kalten Novemberabend im Jahr 2015 entscheidet sich Ehsan für die Flucht. Alleine.

Von Teheran wird er mit einem Bus an die türkische Grenze gebracht. In privaten Autos geht es durch die Türkei, dort steigt er in ein Boot, um nach Griechenland zu gelangen. Nicht alles funktioniert. Viele Strecken, oft mehr als 40 Kilometer lang, muss er zu Fuß zurücklegen. Über Mazedonien, Serbien und Slowenien gelangt Ehsan schließlich am 15. Dezember 2015 nach Graz. Den Zug nach Deutschland, in den er gemeinsam mit mehreren Arabern einsteigt, verlässt er wieder – sein Ziel ist Wien. Dort atmet er zum ersten Mal nach über einem Monat tief durch. "An das erste Mittagessen erinnere ich mich noch genau", sagt er. Auf dem Schwedenplatz meldet sich der damals 25-Jährige bei der Polizei und sucht um Asyl an.

Nach zwei Monaten in Wien zieht Ehsan nach Oberösterreich um. Er kommt, gemeinsam mit 30 anderen Flüchtlingen, in einem Heim in Raab (Bezirk Schärding) unter – und beginnt sofort sich auf das neue Leben vorzubereiten. "Die deutsche Sprache ist sehr schwierig. Aber noch schwieriger ist es, hier zu leben, ohne Deutsch sprechen zu können. Das wusste ich und hab mich sofort bemüht", sagt er.

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Die Berge Oberösterreichs sind Ehsans zweite Heimat geworden.

Ehsan belegt Deutschkurse, lernt Freunde und schließlich auch seine neue Freundin kennen. Immer besser findet er sich in Österreich zurecht, immer genauer versteht er die Sprache. Am Anfang fühle man sich wie ein Kind, jede Kleinigkeit müsse man neu lernen. "Und ich wollte auch unbedingt arbeiten. Das war am Anfang besonders schwierig", sagt er.

Mit seiner Freundin zieht er nach Peuerbach, arbeitet dort 20 Stunden pro Woche bei der Gemeinde, mäht den Rasen, betreut im Hort der Caritas Kinder bei den Hausaufgaben. Schnell entfacht auch seine Leidenschaft wieder: In der Kletterhalle in Peuerbach wird er ins Team aufgenommen, übernimmt das Kinderklettern, verrichtet Hallendienst. Sein Ehrgeiz stößt ihm die Tür zu einem neuen, unbeschwerten Leben auf. Doch Ehsan bekommt kein Asyl. Der Antrag wird in erster Instanz negativ entschieden, er sei nicht gut genug integriert, heißt es. Ein Schlag in die Magengrube.

Doch Ehsan gibt nicht auf, lernt weiter, liest deutsche Alpinliteratur, um die Sprache noch besser zu verstehen, bemüht sich um einen Vollzeitjob. "Aber du hast als Flüchtling nur zwei Möglichkeiten: Selbstständigkeit oder Saisonarbeit", sagt er. Dann wird er auf eine Stellenausschreibung aufmerksam. Die Gmundner Hütte auf dem Traunstein sucht nach einem Koch. "Ich koche gerne, ich lerne das", sagt er sich und schickt eine Bewerbung ab. In Gmunden trifft er sich mit Hüttenwirt Gerald Auinger, die beiden verstehen sich auf Anhieb. Doch Ehsan muss auf das Ausschlussverfahren warten – bewirbt sich jemand aus dem EU-Raum für die Stelle, wird dieser automatisch vorgereiht. Es klappt. Im Mai 2019 gehört Ehsan zum Team der Gmundner Hütte.

"Ganz am Anfang hat jemand bei mir Skiwasser bestellt. Und ich dachte nur: Was willst du? Ski auf dem Traunstein? Noch dazu im Juni. Was ist das für eine Frage?", erinnert sich der 32-Jährige. Doch auch mit den regionalen Begrifflichkeiten lernt Ehsan schnell umzugehen. Für seine Mitarbeiter wird er zur wichtigen Stütze, für die Gäste zum sympathischen Gesprächspartner.

Auch im Winter bleibt Ehsan dem Hüttenleben erhalten. In Gosau arbeitet er im Skigebiet Dachstein-West auf der Zeishofalm, steigt oft mit den Tourenskiern zur Arbeit auf und perfektioniert bei der Abfahrt das Skifahren, das er erst in Österreich erlernt hat.

Vergangenes Jahr wird erneut über seinen Asylstatus verhandelt. Ehsan darf bleiben. Er erhält eine "Aufenthaltsberechtigung plus", kann nach langem Hoffen und Bangen vorübergehend durchatmen. Im Winter bewirbt er sich in Tirol, will auf der Franz-Senn-Hütte in den Stubaier Alpen arbeiten – doch das Virus macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Jetzt ist er zurück, auf dem Berg, den er lieben gelernt hat, und bei den Menschen, die ihn schätzen gelernt haben. Und er möchte bleiben. Am besten für immer. Dafür wolle er Österreicher werden. Auch auf dem Papier.

Flucht nach oben
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