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Zusammen ist man weniger alt

Von Lorenz Wagner   23.Mai 2021

Als in der Früh die Männer mit den Sägen kommen, verbirgt sich Willi in seinem Bett. Einer der Männer klettert in den Wipfel, 25 Meter, doppelt so hoch wie das Haus. Die Spitze des Stamms fällt nach dem Mittagessen, der Fuß zur Dämmerung, Haus und Boden zittern. In der ganzen Straße riecht es nach Holz, eine Woche lang. Und eine Woche lang kommt Willi nicht aus seinem Zimmer. "Ich habe beschlossen", sagt er zu uns, "ich bin jetzt bettlägerig". Es bricht uns das Herz. Dann geht Helga, seine Frau, zu ihm: "Die Sonne scheint so schön." – "Nein!" Eine Stunde später Susanna, seine Tochter. Schließlich Franziska: "Opa, bitte." Sie führt ihn in den Garten, zu einem Stuhl. Seine Fichte! Älter als er mit seinen 95 Jahren. Der Borkenkäfer hatte sie dem Tode geweiht. Tränen füllen seine Augen. Sophia kommt gelaufen, meine Tochter, vier Jahre alt. Sie stellt einen Stuhl vor Uropa Willis Füße und einen zweiten, dritten, vierten, fünften. Alle müssen sich setzen, und sie singt: "Tuff, tuff, tuff, die Eisenbahn, wer will mit der Eisenbahn fahrn? Alleine fahren will ich nicht, da nehme ich den Opa mit." Ich sehe Willi hinter mir lächeln.

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Vier Generationen unter einem Dach

Vier Generationen unter einem Dach. Noch klingt das ungewöhnlich, auch für unsere Freunde; aber ungewöhnlich wird es nicht bleiben. "Wie Sie zusammenleben ist in unserer alternden Gesellschaft ein Modell der Zukunft", sagt Andrew Scott, Ökonom und Altersforscher von der Oxford Universität. Vier Jahre ist es her, dass Franziska und ich mit Sophia vor dieser kleinen, gebrechlichen Villa vorfuhren. Vorne im Erdgeschoss hat Helga ihre Räume, 85 Jahre alt, die Seele im Haus. Fünf Mädchen hat sie großgezogen und ist darüber jung geblieben. Einmal fuhren wir mit ihr zum Camping. Sie schlief eine Woche auf dem Beifahrersitz. Auf der linken Seite, bewacht von zwei bemoosten Steinlöwen, lebt Susanna, 64, mit ihrem Labrador Paula. Als vor zehn Jahren die Finanzkrise ihr Geschäft als Puppenmacherin in Stücke schlug und ihr Lebensgefährte starb, kehrte sie ins Elternhaus zurück. Helga und Willi begannen, alt zu werden. Susanna ließ sich als Heilpraktikerin ausbilden.

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Alltag im schmucken Häuschen: Lesen...

Hinten liegen im ersten Stock Willis Zimmer. Er war einst Vertrauter von Charlie Bluhdorn, zu dessen Firmenreich die Paramount gehörte. Das führte dazu, dass Willi mit Romy Schneider und Kirk Douglas verkehrte und er wunderschöne Geschichten erzählt. Sophia, noch ein schlummerndes Bündel, war das Erste, was wir ins neue Heim trugen. Franziska ging mit ihr in Susannas Reich und legte sich in ihrer Mutter Bett. Franziska war nach der Geburt eine Weile erkrankt. Als ich hinzutrat, sah ich, wie sich Franziska um Sophia, Susanna um Franziska und Helga um alle kümmerte. Mich beschlich eine Hoffnung, wie es sein könnte, wenn vier Generationen unter einem Dach leben.

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Raus in die Natur...

Die Idee hinter der "WG"

Die Idee des Einzugs hatten die Mütter unter sich ausgemacht. Franziska wollte, dass Sophia im Grünen aufwächst. Helga erfüllte die Vorstellung, eine Urenkelin in ihrer Nähe zu haben, mit Aufregung. Und Susanna hatte angeboten, uns die Dachwohnung zu überlassen, sich auf eineinhalb Zimmer zu verkleinern. Bei diesem Opfer half, dass Labrador Paula kaum mehr die Treppe hochkam, ein Konstrukt, das beim Einzug auch die Möbelpacker entsetzte. Immerhin, das größte Möbelstück durfte im ersten Stock bleiben: das Sofa, unser Beitrag fürs gemeinschaftliche Wohnzimmer, der bei Helga und Susanna kreischendes Gelächter auslöste und von dem Willi nichts ahnte. Orange und grün, die Kissen geblümt, alle Farben, nur eine fehlte: Weiß. Die von Willis Sofa, das weichen musste.

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Tiere versorgen...

Müde saß ich am Abend in unserer neuen Küche, hörte von unten einen aufgeregten Mix aus Stimmen. Da kam Franziska gelaufen. "Der Opa hat das Sofa gesehen." Den Ärger gekittet hat Sophia. Als sie auf Willis Schoß saß, wurde aus "Ihr könnt gleich wieder ausziehen" ein "Wäre ich nicht 90 Jahre, könntet ihr wieder ausziehen".

Und so nahm das neue Leben seinen Anfang. Das Gefühl, in einer Puppenwohnung zu wohnen. Gartentage, Tischtennis gegen Helga. Herbstlaub, Weihnachten, Willi kam, von zwei Generationen gestützt, nach oben. "Danke, dass wir hier wohnen dürfen." – "Ach was! Schön, dass ihr da seid."

Der ersten Streitereien

Jede Generation hat ihr eigenes Reich, doch Zentrum ist Willis und Helgas Küche. Scheint die Sonne, verlagern sich die Treffen in den Hausgarten. Hier stellten wir im ersten Frühling das Planschbecken auf, hier serviert Helga ihren Erdbeerkuchen, den sie nach Ostern fast täglich backt. Schließlich sind die Beeren im Angebot und müssen, um Geld zu sparen, gekauft werden.

Im Frühling war es auch, als die ersten Streitereien aufkamen. "Lorenz! Man darf die Waschmaschine nicht so voll machen." – "Franziska, wie sieht es hier aus?" Sie hatten ja recht. Aber sahen sie nicht, wie es ist mit einem kleinen Kind? Und wir brauchten niemanden, der, wenn wir weg waren, den alten Lavendel aus unseren Balkonkübeln ausgrub.

Solche Achtlosigkeiten seien in der Familie normal, erklärte mir Anna Machin von der Oxford-Universität. Im MRT unserer Gehirne lasse sich beobachten, wie achtsam wir gegenüber Freunden und wie nachlässig gegenüber der Familie wir seien. "Weil wir genetisch verbunden sind, vertrauen wir mehr in diese Beziehung."

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... und Willi, der „seiner“ Fichte nachtrauerte

Langsam ruckelte es sich zurecht. Unsere große Hilfe dabei: Sophia, unser Katalysator. Gerhard Ertl, Nobelpreisträger der Chemie, hatte mir mal erklärt, wie wichtig die Katalyse sei, für alles. Katalysatoren vereinen. Wir sahen Sophia beim Wachsen zu und merkten gar nicht, wie wir mit ihr wuchsen. Nachdem sie mit Willis Rollator das Laufen gelernt hatte, eroberte sie das Haus. "Oma Susi, vorlesen!" – "Oma Helga, Trampolin hüpfen!" – "Opa Willi, Trompete spielen!" Am Abend sind alle müde; aber belohnt mit 400 Kinderlachen, statt der durchschnittlich 15 Erwachsener.

Zweiter Katalysator im Haus ist Willi, auch er braucht uns alle. Es sind die Schwächsten, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Neben seinem Schlafzimmer hängt ein Foto, er in meinem Alter, breite Brust, der Schopf dicht, der Flieger wartet. Willi ein halbes Jahrhundert später: die Brust schmal, das Haar weiß, Rollator. Das Alter ist ein Räuber. Oft sprechen Willi und ich darüber. Ob er hundert werden wolle? "Überhaupt nicht. Im Verhältnis zu dem, was ich die letzten achtzig Jahre gehabt habe, ist das jetzige Dasein unerfreulich. Am schönsten wäre es, wenn ich einschlafe und beim Aufwachen feststelle, dass ich nicht mehr …" Er lachte.

Was das Alter mir wohl rauben wird? Ich beginne zu sehen, wie wir Jungen es den Alten schwer machen, ungewollt. Als wir Bilder anschauen, jeder hat was zu sagen, auch Sophia. "Die … die …", hebt sie an, alle warten geduldig. Kurz darauf Willi: "Als … als …" Und schon spricht einer rein. Und er schweigt.

Oder als wir im Garten sitzen. "Willi, wo hast du denn deine Kreuzworträtsel?" – "Die kann ich nicht mehr lesen." – "Seit wann?" – "Seit Herbst." Ich schäme mich. Weihnachten hatten wir ihm noch Rätsel geschenkt.

Lebten Franziska und ich wie vorher, in der Zweigenerationenwohnung, nichts wüsste ich über das Altern. Ich begann, mich damit zu beschäftigen, lieh mir bei der Caritas einen Altersanzug mit Gewichten, die den Gang stören, Handschuhen, die das Greifen erschweren. Als sei ich 80. "Unsinn", sagt Willi. "Wir brauchen einen Anzug, der dich fühlen lässt wie 35."

"Das Altern lässt sich umkehren"

Ich sprach mit renommierten Altersforschern auf der ganzen Welt. Erstmals in der Geschichte, sagen Mediziner wie der Harvard-Professor David Sinclair, lasse sich das Altern umkehren. Medizin, die Zellen verjünge oder im Körper Prozesse auslöse, als treibe man Sport oder faste. Medizin, die Gene aktiviere, die einen gesünder altern lassen. Nur darum geht es: die Gesundheit zu verlängern. Professor Sinclair erzählte mir von Mitteln, die er schon schlucke. Etwa das Molekül NMN, das in Studien Mausgreise in Rennmäuse verwandelt. Das seriöse, zurückhaltende Journal "Nature" widmete ihm gleich dreiundzwanzig Seiten, gestützt auf 272 Studien und Quellen. Das Urteil: NMN biete "einen aufregenden therapeutischen Ansatz, Alterserkrankungen zu behandeln und die gesunde Lebenszeit zu erhöhen." Die Zeit breche an, sagen Wissenschafter, in der Menschen im Alter weniger Leid erdulden müssten. Ich bestellte einige der Moleküle. Helga, Susanna und ich schlucken sie. Mit erstaunlichen Ergebnissen.

Im dritten Jahr kommt die Pandemie. Wir definieren Abstandsflächen, wollen für Helga einkaufen. Sie lacht nur: Das Rausgehen in die Welt sei eine Freiheit, die sie sich nicht nehmen lasse. Auch nicht die Spaziergänge mit ihrer Freundin Ruth, bei denen sie Sophia mitnehmen, weil sie durch die Kleine den Wald mit anderen Augen sehen. Einsamkeit kennen wir in der Pandemie nicht. Aber wir müssen vorsichtig sein. Inzwischen sind wir geimpft. Samstagmorgen. Was ist unten los? Gestern war ich lange wach, habe in eine Serie reingeschaut, Altenheim für Vierjährige, Nir Barzilai hatte mir davon erzählt, New Yorker Professor, weltbekannt für seine Studien mit Hundertjährigen. Die Idee der Serie: Vierjährige besuchen ein Altersheim. Jung und Alt, einfach Zeit teilen: malen, singen, Teig kneten, lachen, Berührung. Ärztliches Fazit nach sieben Wochen: dramatische Stimmungsaufhellung, Gleichgewichtssinn um 50 Prozent verbessert. Drei Viertel der Alten fällt das Hinsetzen und Aufstehen leichter. Schrittzahl und Griffstärke verdoppelt. Die Kraft einer alten Dame hat um 15 Kilo zugenommen.

Und es stärkt auch die Kinder. In den "Blauen Zonen", den Gebieten der Welt, in denen Menschen besonders alt werden, behalten diese die Alten in der Nähe – es senkt auch Sterblichkeit und Krankheitsrate der Kinder. Zusammen ist man weniger alt.

Ich gehe runter. Alle sitzen um Sophia herum. Franziska ist, Befehl von Sophia, das Flugzeug, muss sie heranbringen. Sophia steigt aus, in der Hand einen Luftballon. Sie wirft ihn zu Willi, zu Helga, so geht es Minuten, bis Sophia mit dem Kopf gegen den Schrank knallt und Franziska sie in die Arme nimmt. Sophias Augen füllen sich mit Tränen; aber sie macht sich los. "Kein Aua", sagt sie. Weitermachen. Mit Helga und Willi. Und die beiden haben gerade auch kein Aua.

Das Buch

„Zusammen ist man weniger alt“: Lorenz Wagner, 384 Seiten, 20 Euro, Goldmann;

Inhalt: Lorenz Wagner schreibt über sein Leben in einer „Familien-WG“, in der vier Generationen zusammenleben. Gespickt ist das Buch zudem mit Erkenntnissen aus der Medizin, Genetik und Altersforschung.

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26. April 2024