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Gewissheiten lösen sich auf

Von Clemens Schuhmann   28.März 2020

Der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze hat ein Leib- und Magenthema: die Beschreibung der politischen, sozialen, gesellschaftlichen und seelischen Umbrüche seit Mauerfall und Wiedervereinigung. In seinem neuen Buch "Die rechtschaffenen Mörder", das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden war, beschreibt er die erstaunliche Wandlung des angesehenen Buchantiquars Norbert Paulini zum Nachwende-Rechtsradikalen.

Schulze beginnt sein Buch mit der Schilderung von Paulinis Leben aus der Perspektive eines Ich-Erzählers. Diese Geschichte, die einfach und linear wie ein Märchen anfängt, ist eine wunderbare Milieustudie der späten DDR, geschrieben in einer mitunter altbackenen, barocken Sprache. Wer sich darauf einlässt, wird regelrecht hineingesaugt in das Buch. Denn Paulinis Antiquariat in Dresden-Blasewitz ist ein Zentrum der literarischen Kultur, ein Tummelplatz für Dissidenten und einer der wenigen Orte der geistigen Freiheit im real existierenden Sozialismus.

Und Paulini selbst umweht eine spezielle Aura: Er war ein "Mann, der allein für die Bücher lebte, vielleicht weltfremd und anspruchslos, aber belesen wie kein zweiter", beschreibt Ingo Schulze seine Hauptfigur. Jeder Besuch im Antiquariat in der alten Villa war "die Begegnung mit einem Original".

Das Ende der DDR als Zäsur

Paulini, der sich selbst gerne als "Prinz Vogelfrei" bezeichnet, wurde insbesondere von Frauen umschwärmt. Und zwar trotz seines altmodischen Frauenbildes. Er sagt Sätze wie: "Ich will eine Frau, die mich lesen lässt, die selbst nichts lieber tut, als zu lesen, die schön ist, mich aus ganzem Herzen liebt und sich viele Kinder wünscht."

Das Ende der DDR ist für Paulini schließlich in mehrfacher Hinsicht Zäsur. Als die Mauer fällt, zieht es ihm den Boden unter den Füßen weg: Es werden Stasi-Verstrickungen seiner Ehefrau bekannt, es kommt der finanzielle Ruin, da niemand mehr alte Bücher aus der DDR haben will, er muss aus der Villa ausziehen, da das Haus an die früheren Besitzer zurückgegeben wird, und schließlich vernichtet ein Hochwasser unzählige Bücher. Der einst geschätzte und verehrte Intellektuelle muss sich in die Einsamkeit der sächsischen Provinz zurückziehen. Und dort fühlt er sich schnell als unverstandener Kulturflüchtling im eigenen Land – und radikalisiert sich.

Exemplarisch für Paulinis Verbitterung steht ein Satz, den er im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015 sagte: "Kümmert Sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich eine Million frisch zugereister junger Männer aussuchen darf, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederlassen darf, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen? Finden Sie das denn gerecht?"

Die große Leistung dieses Buchs ist, dass es scheinbare moralische Gewissheiten (ein Buchmensch, ein belesener Intellektueller sei per se etwas Gutes) auflöst. Zudem hinterfragt es Meinungen, Klischees, Ressentiments und vorschnelle Urteile. Und es regt zum Nachdenken an – selbst Tage nach der Lektüre.

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26. April 2024