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Daniel Kehlmann: Im Steinbruch

09.September 2018

Das vorgegebene Thema lautet „Tradition“. Das ist schwierig – gerade deshalb, weil sich zu diesem Wort so viel sagen lässt. Natürlich habe ich mir durchgelesen, was meine Vorredner in den vergangenen Jahren gesprochen haben: sehr Schönes natürlich, sehr Würdiges, und natürlich haben einige anlässlich der hohen Kultur auch über die Barbarei nachgedacht – so gehört es sich, auch das ist schon ein Topos, der seine Geschichte hat. Das schreckliche Zwanzigste Jahrhundert, das „Zeitalter der Wölfe“, wie Ossip Mandelstam es nannte, bevor er ihm selbst zum Opfer fiel, hat uns beigebracht, diesen Zusammenhang fast reflexhaft herzustellen: die höchste Zivilisation, die schaurigste Barbarei. Manchmal entsteht aus dieser Konfrontation schon wieder eine eigene Art Folklore.

Es ist jetzt achtzehn Jahre her. Ein Freund von mir hatte Karten geschenkt bekommen, wir waren neugierig, und so fuhren wir nach Mauthausen. Ein paar der Anwesenden werden sich vielleicht noch erinnern: Eine Gruppe wohlmeinender Leute – ich verwende das Wort ohne ironischen Beiklang, denn sie meinten tatsächlich wohl, und das ist nicht wenig – eine Gruppe wohlmeinender Leute also hatte beschlossen, im Lager Mauthausen ein Gedenkkonzert abzuhalten. Die Wiener Philharmoniker sollten spielen, und zwar, denn wo das Grauen am größten gewesen war, wollte man auch, die Waage im Gleichgewicht haltend, zum höchsten Kulturgut
greifen, Beethovens Neunte. Wir kamen mit dem Auto aus Wien, hielten auf einem der vorgesehenen Parkplätze und ließen uns von den das Publikum zu vorsichtigem Treppensteigen ermahnenden Ordnern in den
Steinbruch lotsen. Und dort standen wir also. Weit weg von der Bühne, auf der nach einigen Reden die Wiener Philharmoniker zu spielen begannen. Sie spielten so gut, wie die Wiener Philharmoniker eben spielen, nämlich sehr, sehr gut; und Beethovens Musik war so prachtvoll, wie Beethovens Musik nun mal ist, und unterdessen wurde es dunkel – ein wolkenloser Frühlingssonnenuntergang ereignete sich aufs Theatralischste. Enorm leistungsfähige Lautsprecher lieferten erstklassigen Ton, und da die Firma, die die elektrischen Anlagen bereitgestellt hatte, offenbar ihr volles Angebot an Leistungen bieten wollte, gab es auch eine auf die Musik abgestimmte Farbbeleuchtung der Steinbruch-Wand: von Dunkelrot zu Violett zu Blau zu Türkis; so war es nun mal bei Freiluftkonzerten üblich, und offenbar hatte niemand Anweisung gegeben, es in diesem Fall
ausnahmsweise doch lieber anders zu halten.

Am faszinierendsten aber waren die Vögel. Ich hatte noch nie eine klassische Sinfonie unter freiem Himmel dargeboten gehört, und so war ich in keiner Weise darauf vorbereitet, wie die Singvögel in der Stille zwischen den Sätzen Motive, die wir gerade gehört hatten, wiederholten – eine Antwort des Frühlings, der Natur, des quellenden Lebens auf Beethovens Kunst. Bezaubernd war das. Aber natürlich wusste man nicht recht, ob man überhaupt das Recht hatte, derlei wahrzunehmen – ob man, alles in allem, überhaupt davon bezaubert sein durfte. Und dazu kam noch etwas. Wo so viele Menschen zusammen stehen, da braucht man natürlich einen Sicherheitsdienst. Ich weiß nicht mehr, ob die eingesetzten Wächter einer privaten Firma angehörten oder ob es Polizisten waren, aber ich weiß noch genau, dass sie sich, um ihre Aufgabe besser erfüllen zu können, der zu diesem Zweck passender Weise schon vorhandenen Infrastruktur bedienten.

Verstehen Sie, was ich meine? Ich meine, dass sie auf den Wachttürmen standen. Während es also dunkel wurde, während Beethovens Chöre jubelnd in die Nacht stiegen und während die Wand des Steinbruchs in wechselnden Farben erstrahlte, konnte man sehen, wie sich droben auf den Türmen schemenhaft die Silhouetten reglos stehender Männer in ... nun ja, eben in Wächter-Pose abzeichneten. Als die Sinfonie zu Ende kam, war es Nacht. Die Wächter droben waren nicht mehr zu sehen. Ich fühlte mich erhoben und glücklich. Beethovens Neunte, noch dazu gespielt von einem der besten Orchester, hat nun mal diesen Effekt. Zugleich wusste ich natürlich, dass das nicht vorgesehen war; ich sollte mich nicht erhoben fühlen, nicht glücklich, sondern ... Ja, wie eigentlich? Ich konnte sehen, dass es den Umstehenden ähnlich ging. Man war verwirrt. Noch mehr als verwirrt allerdings war man dann doch erhoben und glücklich. Dagegen war nichts zu machen, denn es war Beethovens Neunte, da geht es nicht anders. Und so erklangen die letzten Akkorde, und dann herrschte Stille – womöglich, ich erinnere mich nicht mehr, war man zu Beginn ausdrücklich aufgefordert worden, nicht zu applaudieren. Und genau in diesem ebenso euphorischen wie verunsichernden und sich jetzt bereits schon etwas zu lange ausdehnenden Augenblick der Stille trat eine der berühmtesten Schauspielerinnen des Landes auf die Bühne und sagte mit scharfer Stimme in ein Mikrofon: „Niemals vergessen!“ Dann wiederholte sie aus irgendeinem Grund auf Englisch: „Never forget!“ Und ging wieder ab.

Wir alle brauchten eine Weile, um zu begreifen, daß es nun zu Ende war. Nichts würde mehr kommen. Die Gedenkveranstaltung war vorbei. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, sah man, daß die Philharmoniker den Ort auch schon verlassen hatten. Und so gingen wir auch.

Jedenfalls versuchten wir es. Aber so leicht war das nicht. Jeder, der schon einmal als einer unter Tausenden ein Freiluftkonzert besucht hat, kennt diese Situation: Man kommt nicht gleich hinaus. Es dauert, bis so eine Menge sich zerstreut. In diesem Fall aber dauerte es länger als üblich. Deutlich länger. Fünfzehn Minuten vergingen, zwanzig, dreißig. Und schon waren es fünfundvierzig, und wir standen immer noch am gleichen Ort, und die Menge um uns war kaum weniger dicht geworden. Allmählich wurde ich ärgerlich. Gedenken hin oder her, wir alle wurden ärgerlich. Auch das lässt sich schwer unterdrücken, es ist eine Reaktion, die einen ebenso zuverlässig überkommt wie die Erhabenheit bei „Freude, schöner Götterfunken“ – wenn es spät ist und man heimgehen will und alles zu langsam geht, dann ärgert man sich. ‚Wieso ist denn das so dumm organisiert?‘, dachte ich – oder vielleicht, blamabler Weise, sagte ich es sogar laut: „Wieso kommt man hier nicht weg?“ Ja, und dann begriff ich, warum man nicht wegkam.

Wenn ich es erzähle, ist es eine schwache Pointe, das weiß ich, aber damals, bei Nacht, führte es tatsächlich zu einem Moment des Verstehens, der mir den Atem nahm: Man kam hier nicht weg, weil das der Steinbruch von Mauthausen war. Man kam nicht weg, weil der Steinbruch von Mauthausen in tückischster Weise darauf angelegt ist, es einem enorm schwer zu machen, ihn zu verlassen. Plötzlich wurde mir klar, dass ich diesen Steinbruch mit einem Teil meines Wesens noch für eine Metapher gehalten hatte, für einen irgendwie doch abstrakten Begriff, der für viele Dinge stand und manches bedeutete. Aber jetzt war dieser Ort nichts als er selbst. Er war die steil aufragenden Steinwände, zwischen denen es keinen Notausgang gab, keine Hintertür, durch die man das Publikum hätte hinausbugsieren können, und nur die eine Treppe, auf der so viele Menschen getötet worden waren einfach dadurch, dass man ihnen einen Stoß versetzt hatte – diese Treppe, die eben nicht wie all die Treppen, die wir Tag für Tag verwenden, darauf ausgerichtet ist, sicher bestiegen zu werden, sondern deren einziger Zweck darin liegt, einen zum Straucheln zu bringen. Ja selbstverständlich kam man nicht weg! Das war kein Konzertgelände. Das war ein Konzentrationslager. Es war ein schauriger Moment. Es war auch ein Moment der Klarheit. Und es war der Moment, in dem die Gedenkveranstaltung für mich unversehens ihren Zweck erfüllte. Wenn ich mich richtig erinnere, dauerte es fast zwei Stunden, bis wir die Treppe hinauf zum Parkplatz gehen und wegfahren konnten.

Die Wahrheit ist, ich war nicht nur durch Zufall dort, damals, vor achtzehn Jahren. Es war Zufall, dass ich zu einer Karte kam, aber es war kein Zufall, dass ich dachte, meine Anwesenheit könnte mir helfen, etwas zu verstehen. Vor achtzehn Jahren war mein Vater noch am Leben. Und fünfundfünfzig Jahre zuvor wiederum war er selbst Insasse eines Nebenlagers von Mauthausen gewesen. Das Lager Maria Lanzendorf – ein Name, der sich nicht in die Topographie des Grauens wie Dachau oder eben Mauthausen oder Sobibor oder gar Auschwitz eingereiht hat, denn es gab ihrer mehr, als unsere kollektive Erinnerung präsent zu halten vermag. Mein Vater war im letzten Kriegsjahr als Siebzehnjähriger verhaftet worden, aus mehreren Gründen, erstens als, wie das damals hieß, Halbjude, was er wiederum nur war, weil mein Großvater sich und seine Frau durch geschickte Dokumentenfälschung und gut platzierte Bestechungen von ganzen zu halben Juden gemacht hatte. Als Halbjuden hatten meine Großeltern und ihre Kinder überlebt, während der Rest der Familie, all die Cousins und Cousinen und Onkel und Tanten, von denen mein Vater später sprach, wenn er seine Kindheit schilderte, abtransportiert worden waren und nie wiederkamen, sodaß für mich Familie immer durch Abwesenheit definiert war – lauter Namen, lauter Geschichten, die mein Vater lebhaft und mit ansteckender Heiterkeit zu erzählen wußte – aber sie alle waren nicht mehr da. Daß man als Halbjude bessere Überlebenschancen hatte, wußte natürlich damals keiner sicher – es war ein Versuch von Seiten meines Großvaters, in jenem Dunkel, in dem sie alle tappten, den Weg zum Überleben zu finden. Im Rückblick klären sich die Verhältnisse, aber solange die Gegenwart noch Gegenwart ist, kann man nur raten und tasten und sein Bestes versuchen, und dann haben manche Glück und andere – die meisten – eben nicht. Natürlich verlor mein nun halbjüdischer Großvater seine Arbeit, sein Haus wurde arisiert, also: vom Nachbarn übernommen, von jenem Nachbarn, der plötzlich angefangen hatte, über den Zaun zu lugen und mit tiefer Stimme „Juuud“ zu rufen –, und mein Vater durfte nicht weiter aufs Gymnasium, sondern musste Fabrikarbeiter werden, wofür er sich als so ungeschickt erwies, dass die Arbeiter (ich habe diese Anekdote vor Jahren in einem Roman verwendet) ihn für einen eingeschleusten kommunistischen Saboteur hielten und ihm versicherten, sein Geheimnis sei bei ihnen sicher, sie würden ihn nicht verraten. Es war auch ein reiner Zufall, der dazu führte, dass mein Vater an jenem verhängnisvollen Abend verhaftet wurde: Er hatte eine Party besucht, auf der mehrere Mitglieder der Widerstandsbewegung waren – irgend jemand hatte Anzeige erstattet, irgendein anderer entschieden, alle verdächtigen Personen, was per definitionem sogenannte jüdisch Versippte einschloss, „hochzunehmen“. Sein Leben lang legte mein Vater Wert darauf, dass er zwar als Widerstandskämpfer verhaftet worden, aber eigentlich keiner gewesen war. So kam er nach Maria Lanzendorf, das Nebenlager von Mauthausen. Erst heute, im Zurückdenken, wird mir klar, wie wenig mein Vater über die Monate seiner Haft gesprochen hat und dass er, um ein modernes Wort zu verwenden, das man damals nicht kannte, traumatisiert gewesen sein muss. Aber er erzählte vom Kommandanten, der zwei große Hunde neben sich hatte, während er die Reihe der neuen Häftlinge abschritt und der im Vorbeigehen zu meinem

Vater – zutiefst verängstigt und einen Kopf größer als die neben ihm Stehenden – sagte: „Also du kommst hier nicht lebend raus!“ Er erzählte, dass er mitansehen mußte, wie Menschen mit Metallprügeln totgeschlagen wurden. Und er erzählte, dass die Gefangenen nicht in Luftschutzkeller gebracht wurden, während britische Flugzeuge den Industriebetrieb nebenan bombardierten. In Todesangst stand man am Zellenfenster, hörte den Explosionen zu, erwartete den tödlichen Volltreffer und sang die Internationale, was normalerweise ein Todesurteil gewesen wäre, was aber in diesem Moment keiner hören konnte, weil die Wächter nicht lebensmüde waren und daher in ihren Bunkern hockten. Er war durch Zufall verhaftet worden, er überlebte durch Zufall. Schon vorgemerkt für den Transport in ein Vernichtungslager, kam er ohne eigenes Zutun auf eine Liste mit Namen, welche irgendein NSDAP-Funktionär für die Freilassung vorgemerkt hatte, weil er, wie viele damals, schon absah, dass der Krieg verloren war und dass es bald schon nicht so schlecht sein würde, Leute zu haben, die einem bestätigen konnten, dass man sie freigelassen hatte.

So wurde meinem Vater eines Morgens ohne weiteres Aufhebens mitgeteilt, dass er gehen könne. Er verließ das Lager und nahm die Straßenbahn nach Hause, zur Wohnung seiner Eltern in der Schwindgasse in Wien, und eine nun wirklich allzu theatralische Koinzidenz, die man nicht erfinden dürfte, wollte es nicht anders, als dass an genau jenem Tag meine Großmutter das Lager mit einem Paket Nahrungsmittel aufsuchte, um dieses für ihren Sohn abzugeben – solche Pakete wurden immer gern genommen, auch wenn sie die Häftlinge selten erreichten. Diesmal aber blickte der zuständige Beamte in sein Verzeichnis, blätterte, suchte, blätterte weiter, hielt inne und sagte: „Einen Michael Kehlmann haben wir nicht mehr. Der muss gestorben sein.“ Fast hätte die Angelegenheit die tragischste Wendung genommen. Meine Großmutter begann zu schreien, sie hätte vor Ort einen Herzinfarkt erleiden oder, schlimmer noch, die anwesenden Schergen beleidigen können, wofür man natürlich sie verhaftet hätte. Andere Besucher zogen sie hinaus und hielten ihr den Mund zu, und dann machte meine Großmutter die gleiche lange Straßenbahnfahrt von Maria Lanzendorf in die Schwindgasse wie zuvor mein Vater, mehrmals umsteigend, die ganze Zeit über im Glauben, ihr Sohn wäre tot. Dieser Sohn erwartete sie daheim – und wieder hätte sie einen Herzinfarkt haben können, aber durch Glück hatte sie keinen. Mein Vater versteckte sich danach die letzten Kriegswochen im Kohlenkeller, denn man wusste ja nicht, ob man ihn nicht plötzlich wieder verhaften würde; wo reine Willkür herrscht, ist man auch nach einer Freilassung nicht frei. Drunten zwischen den Kohlehaufen konnte er durchs Kellerfenster die Gespräche der Vorbeigehenden belauschen – immer wieder hat er erzählt, wie er eines morgens das Wort „Österreich“ hörte und wie er daraufhin vor Erleichterung und Freude fast die Besinnung verlor – nicht aus Patriotismus, dafür bestand ja nun wirklich kein Anlass, sondern einfach weil der Umstand, dass jemand sich traute, dieses verbotene Wort auf der Straße zu gebrauchen, bedeutete, dass die Herrschaft der Unmenschen vorbei war.

Ich bin vom Thema abgekommen. Das Thema war doch „Tradition“. Das Thema war Kunstschönheit und Musik und Erhabenheit und hohe Kultur, oder? Also worauf wollte ich eigentlich hinaus? Vielleicht auf Folgendes: Mauthausen ist nicht weit von hier. Räumlich nicht und nicht zeitlich. Es ist wirklich nicht lange her. Jenes „Never forget!“, das die berühmte Schauspielerin mit großer Geste über die Köpfe des von seiner eigenen musikalischen Hochgestimmtheit leicht beschämten Publikums rief, es ist eben nicht nur eine Phrase. All die Verwandten, von denen mein Vater erzählte, wenn er von seiner Kindheit sprach, all die später Getöteten meiner Familie, sie hätten gerne dieses Land verlassen. Und weiß Gott, sie haben es versucht. Und sie bekamen keine Visa. Das einzige Visum, das mein Großvater hätte bekommen können, wäre eines für Serbien gewesen; ein unbestimmter Instinkt hielt ihn zurück und rettete so aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben, denn der Weg dorthin hätte sie in die schlimmsten Gräuel jener Regionen des Partisanenkriegs geführt, die Timothy Snyder die „Bloodlands“ genannt hat. Auch das weiß man heute, aber damals wusste man es nicht und war auf seinen Instinkt angewiesen und vor allem auf sein Glück.

Die simple Erkenntnis, die mich damals im Steinbruch überfiel, war die, dass dieser Steinbruch real war. Er war aus Stein. Er war kein Sinnbild. Er war so wirklich, so solide wie nur irgend etwas sein kann. Und alles, was darin geschehen war, war wirklich geschehen, und zwar gerade erst. Tradition. Letztlich heißt dieses Wort: „gerade erst“. Es heißt, dass das, wovon wir zunächst meinen, es wäre in weite Ferne und gleichsam ins Abstrakte entrückt, uns eigentlich sehr nahe ist und fortwirkende Bedeutung hat für unser Leben, und zwar in der einfachsten, praktischsten Weise. Das gilt für die Vergangenheit von Musik und Kunst, und es gilt ebenso für die Entscheidungen der Politik. William Faulkners fast zu Tode zitierter Satz „The past is never dead. It’s not even past“ ist eben nicht nur ein ob des wohlgesetzten Paradoxons hochwirksames Bonmot, sondern eine ganz einfache Wahrheit: Das, was war, ist nicht nur nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, es ist mit uns, auch wenn wir uns entschließen, es zu ignorieren. Wenn man sich erinnert, dass das Dritte Reich kein blasses Mahnwachen-Phantasiegespinst ist, sondern daß sich vor kurzer Zeit erst von diesem unseren Land aus die allerrealsten Flüchtlingsströme über Europa ergossen haben, Ströme von Verzweifelten, Entwurzelten und Entrechteten, die man von hier vertrieben hatte und die dann keiner draußen aufnehmen wollte, dann beurteilt man vielleicht auch einen jungen Kanzler anders, dessen größter Stolz darin liegt, dass er im Bündnis mit dem Möchtegern-Diktator Ungarns imstande war, verzweifelte Menschen ohne Heimat, Pässe und Rechte, die mit Mühe das nackte Leben retten konnten, von unserem reichen Europa fernzuhalten. Ja, und somit bin ich beim Thema. Sie haben es vielleicht kommen sehen – und es tut mir leid, dass auch ich, wie all die anderen dieser Tage Reden haltenden Schriftsteller, darauf zurückkommen muss. Womöglich bricht ja bald wieder eine Zeit an, in der man in Österreich über Musik, über Kunst, über schöne Dinge sprechen kann, ohne von den Fliehenden und von
unserer beunruhigenden Regierung zu reden. Ich hoffe inständig, diese Zeit kommt. Aber sie ist noch nicht hier.

Ich habe gerade ein Stück darüber geschrieben, wie im Jahr 1939 einem Schiff mit knapp tausend Flüchtlingen, darunter vielen Österreichern, erst das Anlegen in Kuba, dann in den USA verwehrt wurde – mit Argumenten, die denen, die wir heute in der Zeitung lesen, aufs Haar gleichen: Das Boot sei voll, das Aufnahmevermögen erschöpft, die Kultur dieser Leute zu fremd. Natürlich sieht das heute absurd aus: Die Vereinigten Staaten von Amerika unfähig, tausend Menschen aufzunehmen? Aber damals klang es nicht wie ein Witz, sondern wie Realpolitik.

Mein Vater hätte auf diesem Schiff sein können. Er war es nicht, zum Glück. Dass er, anders als der Großteil unserer Familie, überlebte, verdankte er höchst unwahrscheinlichen Zufällen. Hätten diese sich nicht ereignet – und für die meisten Menschen gab es solche rettenden Zufälle nicht –, stünde ich nicht vor Ihnen. Auch das ist keine Metapher. Es ist eine schlichte Wahrheit, und Tradition heißt eben tatsächlich vor allem das, was die berühmte Schauspielerin damals etwas zu theatralisch ins Mikrofon rief, während die Vögel Bruchstücke von Beethovens Melodien wiederholten: „Niemals vergessen!“ Nicht vergessen, was passiert ist, das heißt eben nicht nur, an Jahrestagen in Konzentrationslagern schöne Musik zu machen. Es heißt auch: Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.

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26. April 2024