Ehemaliger Chef-Buchhalter von Wirecard vor Gericht: "Ich kam mir vor wie ein Jongleur"
MÜNCHEN. ASCHHEIM. Die Aussage des dritten Angeklagten könnte großen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens haben.
Seit vier Jahren sitzt der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun in Untersuchungshaft, seit über eineinhalb Jahren versucht das Landgericht München I, Licht in das Dunkel des größten deutschen Betrugsfalls seit 1945 zu bringen. Ein Urteil ist nach den bisher 137 Prozesstagen nicht in Sicht.
Am heutigen 138. Verhandlungstag will sich der bisher schweigsame frühere Chefbuchhalter des Konzerns erstmals zu den Anklagevorwürfen äußern. Die Kammer stellte dem Bilanzfachmann für den Fall eines umfassenden Geständnisses im größten deutschen Betrugsfall seit 1945 einen Deal mit sechs bis acht Jahren Haft in Aussicht.
Entschuldigung vor Gericht, kein Geständnis
Der ehemalige Chef der Buchhaltung, Stephan von Erffa, räumte zu Beginn seines auf zwei Tage angesetzten Statements ein, Fehler gemacht zu haben, die er bereue und für die er sich entschuldigen wolle. Allerdings betonte er auch, sich nicht persönlich bereichert und stets das Beste für das Unternehmen gewollt zu haben.
Zudem habe er sich mit vielen Dingen nur sehr knapp beschäftigt und sich auf die Fachabteilungen verlassen. "Ich hatte sehr viele Themen auf dem Tisch und kam mir vor, wie ein Jongleur, der voll damit beschäftigt war, dass kein Ball herunterfällt", beschrieb er seine Tätigkeit. Dabei habe er keine Zeit gehabt, sich mit den einzelnen Bällen eingehender zu beschäftigen. Heute sehe er aber ein, dass er innehalten und dies hätte tun sollen.
Manager Oliver Bellenhaus, der vor Gericht als Kronzeuge auftritt und die zwei Mitangeklagten belastet, sei "gut im Lügen und Verdrehen", sagte von Erffa im Laufe seiner selbstverfassten Aussage. Den "Belastungseifer" seines Mitangeklagten führte er unter anderem darauf zurück, dass dieser ihm seinen Titel und sein Gehalt geneidet habe. Zudem habe er ihn mit seinen Nachfragen nach Belegen "genervt" - wohl auch weil Bellenhaus diese dann habe fälschen müssen.
Die Staatsanwaltschaft zeigte sich "ein kleines bisschen enttäuscht" von den Aussagen. Die Verteidigung des ebenfalls angeklagten Ex-Wirecard-Chefs Markus Braun zeigte sich dagegen zufrieden. Die Aussage stütze die Angaben ihres Mandanten.
"Nicht die Zeit und Kraft, alles zu hinterfragen"
Insgesamt zeichnete der Angeklagte ein Bild von schlechter personeller Ausstattung, schlechten Prozessen und überforderndem Arbeitsvolumen. "Es war eigentlich immer so, dass zwei Leute gleichzeitig etwas von mir wollten", beschrieb er seinen typischen Arbeitstag. Insbesondere bei den Jahresabschlüssen habe es viel Zeitdruck gegeben. "Man hat nicht die Zeit und die Kraft, alles zu hinterfragen. Dafür gibt es die Fachabteilung", sagte er. Auf deren Informationen müsse man vertrauen können. Oft habe man deren Antworten nur an die Wirtschaftsprüfer weitergeleitet. "Wenn die zufrieden damit waren, waren wir es auch."
Zum Drittpartnergeschäft, das beim Zusammenbruch von Wirecard eine zentrale Rolle spielte, äußerte sich Stephan von Erffa zunächst nicht. Er schränkte Erwartungen allerdings bereits zu Beginn seiner Aussage ein. Dies sei nicht Schwerpunkt seiner Arbeit gewesen, viele Informationen dazu habe er nur vom Hörensagen. Er könne nur "von vielen Jahren Schreibtisch" bei Wirecard erzählen.
Der frühere Chefbuchhalter sitzt seit Dezember 2022 gemeinsam mit dem früheren Wirecard-Vorstandschef und gebürtigen Österreicher Markus Braun und dem früher in Dubai für Wirecard tätigen Manager Oliver Bellenhaus auf der Anklagebank. Der ehemalige Wirecard-Vertriebsvorstand und Österreicher, Jan Marsalek, ist weiter auf der Flucht.
Im Juni 2020 musste Wirecard Insolvenz anmelden, weil dem Zahlungsdienstleister 1,7 Milliarden Euro fehlten: Das Geld war in der Konzernbilanz verbucht, angeblich auf Treuhandkonten in den Philippinen deponiert - doch nirgendwo auffindbar.
Anklage wegen Untreue, Marktmanipulation und Bandenbetrug
Im Frühjahr 2022 erhob die Staatsanwaltschaft München I schließlich eine 474 Seiten umfassende Anklage mit mehreren Straftatbeständen: unrichtige Darstellung wegen falscher Unternehmensbilanzen, Untreue wegen Kreditvergabe ohne Sicherheiten, Marktmanipulation wegen falscher Information des Finanzmarkts und - der gravierendste Vorwurf - gewerbsmäßiger Bandenbetrug.
Die Chefetage eines deutschen DAX-Konzerns soll demnach als kriminelle Bande agiert haben, um gemeinsam die kreditgebenden Banken zu prellen. Die Staatsanwaltschaft beziffert den Schaden auf gut drei Milliarden Euro. Der Großteil der erfundenen Geschäfte soll demnach im Mittleren Osten und Südostasien über die drei Partnerfirmen Al Alam, Senjo und Payeasy verbucht worden sein, die angeblich im Wirecard-Auftrag Kreditkartenzahlungen abwickelten.
Hauptangeklagter ist der frühere Konzernchef Braun. Er soll laut Anklage die Höhe der vom Konzern veröffentlichten falschen Zahlen vorgegeben haben. Braun streitet eisern sämtliche Vorwürfe ab. Als Kronzeuge der Anklage tritt Bellenhaus auf, der nach eigenen Worten "Regenmacher" im Konzern war. Bellenhaus räumt die Anklage im Gegensatz zu seinem einstigen obersten Vorgesetzten weitestgehend ein. Beide beschuldigen sich daher gegenseitig der Lüge. Auch deswegen kommt der Aussage des früheren Chefbuchhalters von Erffa große Bedeutung zu.
Verschwundene Milliarden
Ex-Vorstandschef Braun sagte mehrfach aus, dass die Geschäfte des Unternehmens - und die Milliardenumsätze - nicht erfunden, sondern real gewesen seien. Nach Brauns Darstellung sollen der abgetauchte Vertriebsvorstand Jan Marsalek, Bellenhaus und weitere Komplizen die wahren Betrüger gewesen sein, die dem Konzern Milliarden stahlen und auf eigene Konten umleiteten.
Die Kammer setzte Prozesstage bis kurz vor Weihnachten an. Ein ganz wichtiger Zeuge muss noch vernommen werden: Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Dieser entdeckte bei seinen Nachforschungen bisher keine Spur der verschwundenen Milliarden, von deren Existenz Braun überzeugt ist.
Ein Idealtyp des Mangers, dieser Herr.
Alles auf dem Schreibtisch wird so gut wie ungesehen weitergegeben an die Fachabteilungen, auf die er sich verlässt. Am Ende hat er keine Ahnung von nix. Und im Grunde sackt er nur sein dickes Gehalt ein.
Es ist schon in Ordnung, wenn man seinen Fachleuten vertrauen schenkt. Wenn man aber selber gar keinen Überblick mehr hat, dann ist man eigentlich überflüssig.