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Türkischer Honig am Bosporus

Von Gerald Mandlbauer aus Istanbul   06.Juni 2011

Dazu braucht Erdogan am Sonntag die absolute Mehrheit. Entsprechend brutal mit gegenseitigen Anschuldigungen wird der Wahlkampf geführt. Mit Versprechen wird nicht gekleckert, die 70 Millionen Türken erhalten Honig ums Maul geschmiert. Erdogans Wahlprogramm ist simpel und erinnert an die Wirtschaftswunderrezepte der Fünfzigerjahre: Wachsen, Wachsen, Wachsen, Wohlstand für alle.

Umgesetzt in konkrete Wahlversprechen bedeutet das: Ein gratis E-Book für jeden Schüler. Die Errichtung zweier neuer Trabantenstädte zu den existierenden acht Millionenstädten, die die bitterarme Landbevölkerung, die in die Städte drängt, aufnehmen kann. Den Bau eines Kanals neben dem Bosporus, gleich dem Panamakanal, Flughäfen, Autobahnen.

Erdogan verbindet diese Ankündigungen auf den Plakaten mit dem Jahr 2023, in dem die türkische Republik 100 Jahre alt wird. Bis dahin soll der Boom das Land unter die zehn größten Volkswirtschaften der Welt treiben.

Bei Wirtschaftsgesprächen des oberösterreichischen Raiffeisen-Wirtschaftsforums in Istanbul wurden diese Prognosen mit Zahlen gestützt. Die Türkei wuchs im Vorjahr um 8,9 Prozent, die Großregion der 14-Millionen-Metropole Istanbul ist heute zehnmal größer als Wien.

Vor 30 Jahren lagen beide Städte noch Kopf an Kopf. Die Bevölkerungszahl hat sich in zehn Jahren versiebenfacht, „das ist wie China vor unserer Haustüre“, sagte Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl vor türkischen und österreichischen Unternehmern in Istanbul. Leitl: „Mit dem Flugzeug von Wien nach Istanbul brauche ich zwei Stunden, von Linz nach Wien mit dem Auto auch.“

Generalkonsul Paul Jenewein rückte in Österreich vorhandene Vorurteile zurecht. „Österreich beschäftigt sich nur oberflächlich mit den Möglichkeiten, die hier bestehen.“

Gerald Knaus, in Istanbul lebender Österreicher, der der Initiative „politische Zukunft der Türkei“ vorsteht, korrigierte das Bild vom türkischen Moslem. „Vor 15 Jahren wurden 70 Prozent der Ehen noch von den Eltern arrangiert, die Hälfte der Frauen waren Analphabeten. Das hat sich alles gedreht. Zwei Drittel der Türken leben heute in den großen Städten. Istanbul ist der Westen.“ Und zwar mit allen Schattenseiten eines Booms. Die Stadt erstickt im Verkehr.

Österreich war im Vorjahr der größte ausländische Investor in der Türkei. Die Exportchancen seien weiterhin für österreichische Firmen gewaltig, sagte der Generaldirektor der Raiffeisenlandesbank, Ludwig Scharinger, dessen Bank diese Besuchsreise organisiert hatte.

Vieles erinnert bei diesen Wirtschaftskontakten in Istanbul an die Euphorie, die vor zehn Jahren bei Besuchen nach Spanien und Irland zu verspüren war – Ende der dortigen Hochstimmung bekannt.

Allein der internationale Währungsfonds warnt vor einer Überdrehung der türkischen Aufwärtsspirale. Die Notenbank müsste längst die Zinsenbremse ziehen, um das Wachstum zu dosieren, tut dies aber angesichts der kommenden Wahlen und eines möglichen späteren Verfassungsreferendums nicht. Auch das Leistungsbilanzdefizit ist nicht zu übersehen.

Österreichs Industriellen-Präsident Sorger relativierte die österreichische Zufriedenheit. „Wir sind zwar hier als Investor groß eingestiegen, aber als Exporteur liegen wir deutlich hinter Ländern wie Belgien. Das ist nicht befriedigend.“

Wirtschaftlich werden die Schattenseiten des türkischen Booms ausgeblendet wie die politischen Warnzeichen. Auf dem Index für Pressefreiheit liegt die Türkei auf dem 138. Platz von 176 Ländern. Und wie die regierende AKP mit der politischen Konkurrenz umgeht, zeigte sich letzte Woche in Hopa an der Schwarzmeerküste. Als Kommunalpolitiker der konkurrierenden CHP einen Protest gegen Erdogans Wahlkonvoi riskierten, schritt die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken ein. Ein unbeteiligter Lehrer starb an den Schlägen. Was Recep Erdogan aus einer absoluten Macht machen würde, entzieht sich damit jeder Prognose.

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28. März 2024