Christophe Lemaitre: Chapeau vor dem Lausbubengesicht
Nervös zappelte Christophe Lemaitre vom linken auf den rechten Fuß und wieder zurück – wie ein kleines Kind, das vor einem schön verpackten Geschenk wartet und darin Wunderbares vermutet.
Nervös zappelte Christophe Lemaitre vom linken auf den rechten Fuß und wieder zurück – wie ein kleines Kind, das vor einem schön verpackten Geschenk wartet und darin Wunderbares vermutet. Es war Mittwochnacht im Olympiastadion von Barcelona, wo die Leichtathletik-EM stattfindet, und schon tagsüber war Historisches geschehen. Die Katalanen hatten beschlossen, den Stierkampf zu verbieten. Lemaitre nimmt in seiner liebsten Beschäftigung aber niemanden auf die Hörner, er läuft 100 Meter, das dafür barbarisch schnell. Nach 10,11 Sekunden hatte der 20-Jährige seine Surprise: Er hängte sich die Goldmedaille um, setzte einen Strohhut auf, schnappte eine Tricolore und drehte Ehrenrunden. „Das ist das pure Glück“, rief er.
Die Sympathien waren dem Burschen mit dem dürren Dreitagesbart schon zuvor zugeflogen. Lemaitre ist die Erscheinung, die Hoffnung, die Lichtgestalt zwischen Auslaufmodellen, der Usain Bolt Europas. Er ist weiß. Und kann es nicht leiden, wenn rassistische Untertöne auftauchen. Für ihn sei Laufen keine Frage der Farbe, „die Leichtathletik ist eine weltweite Sportart, in der es vor allem auf die Lust, die Bissigkeit und das Training ankommt“, sagt Lemaitre. Eine Legende ist er für viele bereits. Der zweifelhafte Ruhm wird ihn aber immer begleiten, der erste weiße Sprinter zu sein, der die Zehn-Sekunden-Schallmauer durchbrechen konnte. Für ihn sei es auch kein Ziel, Usain Bolt und den Weltrekord von 9,58 Sekunden zu jagen: „Titel sind mir viel wichtiger als die Zeit“, sprach er und rückte den Strohhut zurecht, mit dem er eher wie ein dahergelaufener Badetourist ausschaut als einer, der die Leichtathletik-Welt in Staunen versetzt.
Der schlaksige Junge stammt aus Annecy in Rhône-Alpes, einer bergigen Gegend, in der andere Skifahrer werden. Er hat Fußball und Rugby gespielt, doch Lemaitre läuft lieber, seit er 14 Jahre alt ist. Macht er das, schlenkert sein Kopf hin und her, darunter fliegt wild eine Silberkette. Dank seiner enormen Beschleunigung gegen Ende der 100 Meter räumte er auch bei der EM das Feld von der Mitte auf. Es scheint, die Ziellinie zieht ihn an wie ein Magnet ein Stück Eisen. Mit der Anziehungskraft beschäftigt sich Lemaitre auch sonst, er studiert Elektrotechnik, denkt aber nicht daran, das wegen seines Erfolges aufzugeben. „Das Studium ist wichtig für mich. Ich brauche diese Balance zum Sport.“ Sein Mund formt sich zu einem Lausbubengrinsen: „Lieber ist mir aber schon noch Laufen und nicht Lernen.“ Das freut die Leichtathletik-Welt. Die zieht den Strohhut vor ihm.