Die Angst des Engländers vor dem Elfmeter
MOSKAU. Achtelfinale: Training für den möglichen Ernstfall gegen Kolumbien.
"Penalties" – das Wort treibt englischen Fans Angst und Wut in die Glieder. Sieben Mal ist die Entscheidung über das Weiterkommen in K.o.-Spielen Englands bei einer WM oder EM im Elfmeterschießen gefallen – sechs Mal verlor England, zuletzt fünf Mal in Folge. Kein anderes Team hat eine schlechtere Bilanz. Damit diese Serie heute beim möglichen Ernstfall im Achtelfinale gegen Kolumbien (Moskau, 20 Uhr) nicht weitergeht, hat sich Teamchef Gareth Southgate einiges einfallen lassen.
Er selbst hat sich von all den legendären Fehlschüssen wohl den fatalsten geleistet: Bei der Heim-EM 1996 gegen Deutschland vergab der damalige Aston-Villa-Verteidiger den entscheidenden Elfmeter. Greifbarer als damals schien ein Turniersieg für England seit dem WM-Triumph 1966 niemals davor und erst recht nie danach.
Sein persönliches Trauma hat Southgate überwunden. "Ich hatte ja ein paar Jahrzehnte Zeit dazu", sagt der 47-Jährige mit einem Schmunzeln. Er will sich nun diese Erfahrung zunutze machen. "Elfmeterschießen ist definitiv kein Glück. Und es hat auch nichts mit Zufall zu tun", erklärte er. Deswegen bereitete er seine Spieler darauf vor. Southgate: "Es gibt mehrere Parameter, die das beeinflussen, durch die man die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs deutlich steigern kann."
Strafstoß-Training seit März
Aus diesem Grund trainieren die Spieler der "Three Lions" seit März nach jeder Einheit Elfmeter. Und sie haben sich alle psychologischen Tests unterziehen müssen. So sollte zum einen herausgefunden werden, wer der Situation am ehesten gewachsen zu sein scheint, und den Spielern umgekehrt ein Gefühl der Sicherheit gegeben werden.
Beim Halbfinale 1996 gegen den späteren Europameister Deutschland habe Coach Terry Venables auf dem Feld spontan gefragt, wer schießen wolle, berichtete Southgate. Er habe sich gemeldet, weil er dachte, Verantwortung übernehmen zu müssen. "Heute weiß ich: Es ist mutiger zuzugeben, dass man sich nicht sicher fühlt."
Über den heutigen Kader existiert eine ausführliche Liste, wer in der bestmöglich simulierten Situation im Training am häufigsten getroffen hat. "Sie haben eine gewisse Routine und Sicherheit entwickelt", sagte Southgate. "Der eine will nicht gestört werden, der andere braucht Hilfe und Ermutigung." Auch das ist alles festgehalten. Und zu guter Letzt ist auch das Verhalten aller Nicht-Schützen klar geregelt. "Um die Spieler herum muss es ruhig sein, es darf keine Nervosität herrschen", erklärte Englands Teamchef. "Es dürfen nur bestimmte Menschen auf dem Spielfeld sein. Die Spieler sollen nicht so viele Stimmen im Ohr haben."
Was er damit schon erreicht hat: Der natürliche englische Pessimismus ist Selbstsicherheit gewichen. Auf die Frage, ob er schießen wolle, antwortete WM-Debütant Dele Alli: "Natürlich. Wir sind gut vorbereitet. Jeder würde gerne schießen." Harry Kane hat im Gruppenspiel gegen Panama zwei Strafstöße unhaltbar versenkt. Ob das reicht, den Fluch zu beenden, wird sich zeigen – vielleicht schon heute gegen Kolumbien.