Willkommen in Absurdistan
Die grenzenlose Fußball-EM möchte die Corona-Pandemie ins Abseits stellen. Das kann ein Befreiungsschlag werden. Oder ein Eigentor.
Eine auf ganz Europa verteilte Fußball-Europameisterschaft ist ungefähr so plausibel wie eine auf die ganze Welt verteilte Fußball-Weltmeisterschaft: also gar nicht. Endrunden-Turniere zum Spiel ohne Grenzen zu machen, mag nachvollziehbar sein, wenn es darum geht, Regionen oder benachbarte Nationen zu verbinden. Aber so wie bei der gestern mit einem Jahr Verspätung angekickten EURO 2020 die Spiele auf elf Nationen zwischen Spanien und dem asiatischen Aserbaidschan zu verteilen, ist fast so grotesk, wie eine Fußball-Weltmeisterschaft im Dezember in der Wüste abhalten zu wollen.
Die EURO 2020 im Jahr 2021 ist daher ein weiterer Beleg dafür, dass Sport-Großveranstaltungen in Zeiten des Gigantomanismus und Turbokapitalismus ein neues Zuhause gefunden haben: willkommen in Absurdistan.
Dass sich die Corona-Pandemie als Spaßbremse auf das Spielfeld geschlichen hat, konnte vor sieben Jahren niemand wissen, als die Schnapsidee des paneuropäischen Turniers vom Europa-Verband UEFA ausgeschnapst worden war. Das Virus wird in den kommenden Wochen bis zum Finale am 11. Juli verlässlich auf Ballhöhe sein. Schon vor dem gestrigen Auftaktspiel zwischen Italien und der Türkei gab es Corona-bedingte Ausfälle.
Sollte das Event weiterhin an Inkontinenz leiden – also die Blasen der Teams nicht halten, was man sich von ihnen verspricht –, sodass im Turnierverlauf ganze Mannschaften in Quarantäne geschickt werden müssen, droht die EURO in die sportliche Wertlosigkeit abzudriften. Daran mag jetzt freilich niemand denken. Im Gegenteil: Sogar die nicht unbedingt für Hurra-Journalismus bekannte "Neue Zürcher Zeitung" verkündete gestern die Frohbotschaft: "Der Anpfiff tut gut. Der Fußball verjagt das Virus".
Für die Organisatoren markiert die EURO selbstverständlich einen Befreiungssschlag und damit die Rückkehr zum (angeblich) normalen Leben. Mit dem in der Regel schaumgebremsten Comeback der Fußball-Fans in den Stadien – nur in Budapest verzichtete man auf ein Besucherlimit, weil Regierungschef Viktor Orban offenbar Corona in Ungarn abgeschafft hat – soll demonstriert werden, dass diese Pandemie nach ihrem Powerplay in den vergangenen Monaten bei der Fußball-Europameisterschaft kein Leiberl mehr hat.
Geht es gut, könnte in den kommenden Wochen tatsächlich das entstehen, was jetzt noch nicht spürbar ist: eine von einem paneuropäischen Fußball-Turnier gespeiste, grenzenlose Euphorie.
Möge die Übung gelingen.
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