Der Geist der Weihnacht
Was die Maskenmänner im ostafrikanischen Land Malawi mit dem europäischen Weihnachtsmann gemeinsam haben weiß Mona Contzen.
Vor wenigen Minuten noch war Benford ein Geist. Ein überirdisches Wesen, das hinter einer grimmigen Maske zu schnellen Trommelschlägen tanzte, wild herumwirbelte und wie ein tollwütiges Huhn mit den Füßen im staubtrockenen Boden scharrte. Wenn er sich, umgeben von einer feinen Sandwolke, näherte, wichen die Kinder ängstlich zurück. Benford gehört zu den Chewa, ein Bantu-Volk im ostafrikanischen Land Malawi.
Jetzt würden die Kinder gerne ihre Nasen an den Scheiben des Jeeps platt drücken, wären sie nur ein bisschen größer. Im Inneren des Wagens ist es heiß und stickig. Während in Österreich die Weihnachtsdekorationen in den Städten und Dörfern leuchten, brennt die Sonne im ostafrikanischen Dorf Mbeya erbarmungslos. Doch die konspirative Runde hat keine andere Wahl als die Fenster geschlossen zu halten. Schließlich muss das größte kulturelle Geheimnis der Chewa gewahrt werden – koste es Benford auch noch so viel Schweiß.
Der junge Mann ist fast so etwas wie ein afrikanischer Weihnachtsmann – eines von mehr als 10.000 überirdischen Wesen, die die Chewa-Kultur bevölkern. Statt unter einem roten Mantel und einem Rauschebart verbergen sie sich hinter geheimnisvollen Masken, wenn sie ihrem Volk mit dem "Gule wamkulu", dem "großen Tanz", eintrichtern, ja artig zu sein.
"Das Schlimmste, was ein Zuschauer machen kann", sagt Benford und streckt seinen Arm aus, "ist auf einen Tänzer zu zeigen und zu sagen: Da steckt ein Mensch hinter der Maske."
Wenn der 21-Jährige sein Kostüm aus bunten Kleiderfetzen über Jeans und T-Shirt streift und mit einer der 60 Masken, die das Dorf besitzt, sein Gesicht verbirgt, wird er zum Geist. Er selbst glaubt ebenso wenig daran, wie sich der Weihnachtsmann im Shopping-Center für einen Bewohner des Nordpols hält, doch traditionelle Stammesangehörige und vor allem die Kinder meinen die mystischen Wesen leibhaftig vor sich zu sehen.
Faszinierend und furchtbar
Das Geheimnis um die Existenz der Geister, für Kinder faszinierend und furchterregend zugleich, erinnert unweigerlich an die Magie der Weihnacht. Von drauß’ vom Walde kommen sie her und locken sogleich eine Schar Schaulustiger an. "Wir nennen das ,nach den Geistern fischen‘", erklärt Benford. "Denn die Geister können nur an bestimmten Orten beschworen werden – eben dort im Busch, wo wir uns für den Tanz vorbereiten. Das dürfen die Kinder auf keinen Fall wissen."
Tatsächlich ist Benford eigentlich Fischer, der nebenbei noch ein wenig Ackerbau betreibt, so wie die meisten Männer im 2000-Einwohner-Dorf am südlichen Ende des Malawi-Sees.
Malawi, eines der kleinsten und ärmsten Länder Afrikas, lebt von der Landwirtschaft, der Tourismus ist mit 850.000 Besuchern jährlich noch keine nennenswerte Größe. Er hat längst nicht die Dimensionen der Nachbarländer Tansania oder Sambia erreicht. Wichtigster touristischer Anziehungspunkt und Lebensader ist der Malawi-See, der 20 Prozent des Staatsgebietes bedeckt, und den größten Artenreichtum an Fischen weltweit beheimatet – ein riesiges Tropenaquarium voller farbenprächtiger Buntbarsche, ein Paradies für Taucher und Schnorchler.
Obwohl Benfords Dorf am Rand des Lake Malawi Nationalparks liegt und sich von der nahegelegenen Monkey Bay Richtung Süden die Hotels entlang der Sandstrände ballen, bringen Touristenführer nur gelegentlich Besucher in die Straßen von Mbeya. Hier brauen Frauen starken Mais-Schnaps, während sich Männer im Schatten der Mango-Bäume mit Brettspielen die Zeit vertreiben. Es gibt weder fließend Wasser noch Strom. Den Unterschied zwischen Arm und Reich erkennt man, ob die Ziegelsteine der kleinen Häuser rot gebrannt oder sonnengetrocknet-lehmfarben sind.
Wenn Touristen kommen, lässt sich Benfords Tanz- und Trommelgruppe gerne zu einer Vorführung überreden. "Wir suchen unsere Masken sorgfältig aus, um die Leute zu unterhalten", sagt Benford. Sobald der erste Geist, angekündigt vom flotten Rhythmus, hinter einer feuerroten Maske die Bühne betritt, hängen die Kinder an den Rockzipfeln ihrer Mütter. Nähert sich das Ungetüm, nehmen sie kreischend Reißaus.
"Die Kinder, die noch nicht initialisiert wurden, verstehen die Bedeutung der Tänze noch nicht", erklärt der junge Mann, der seinen Erklärungen stets einen argwöhnischen Blick auf gespitzte Kinderohren vor den Fenstern des Jeeps folgen lässt.
Der "Gule wamkulu" steht auf der Unesco-Welterbeliste immaterieller Kulturgüter. Er ist nicht nur Ahnenkult, sondern gibt Dorfbewohnern alltägliche Verhaltensregeln vor. Ohne Rute, dafür mit viel aufgewirbeltem Staub wird in bis zu fünfstündigen Zeremonien gelehrt, dass Eltern respektiert werden oder Männer ihre Frauen nicht schlagen sollen.
"Beim ,Dzeko Alimbira‘, dem Tanz der roten Maske, geht es um den Streit um Land", sagt Benford, der als Siebenjähriger der Gruppe beitrat, weil seine Eltern dachten, dass ihm die Extra-Portion Sozialunterricht gut täte. "Er sagt den Leuten, dass sie fair verhandeln müssen." Bis zu zehn Tänze führen Benford und seine Truppe im Monat auf, gleich neben dem Friedhof und der presbyterianischen Dorfkirche. Sie musizieren und tanzen zu Beerdigungen oder beim Besuch einer wichtigen Persönlichkeit, und wenn jemand einen Segen erbitten oder etwas feiern möchte. Trotz der Missionierung durch britische Kolonialherren wird afrikanische Kultur in Malawi noch gelebt. Nicht nur in Benfords Dorf, sondern auch in der Mua Mission.
Mit der Maske des Priesters
Eine Autostunde von der Hauptstadt Lilongwe entfernt betreibt Claude Boucher Chisale dort das "Kungoni Centre of Culture and Art". Der katholische Priester hat die Chewa, die größte Volksgruppe in Malawi, gelehrt, ihre Kultur mit dem Christentum zu vereinbaren. Als Zeichen der Hochachtung tritt beim "Großen Tanz" auch in Mbeya, wo die meisten Einwohner katholisch sind, regelmäßig ein Geist auf, der das rosafarbene Gesicht und den schmalen Haarkranz des Geistlichen trägt. Messen und Maskentänze bleiben meist voneinander getrennt. Verkleidungen sind in der Kirche nur am Heiligen Abend zu sehen, wenn die Kinder die Weihnachtsgeschichte aufführen. Am ersten Weihnachtstag liegen Geschenke unter festlich geschmückten Pinien. Wer die bringt, bleibt ein Geheimnis – den Weihnachtsmann, den gibt es in Malawi nicht.