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Das neue Kasan-Phänomen

Von Hannes Fehringer, 10. November 2018, 15:00 Uhr
Das neue Kasan-Phänomen
„Tempel aller Religionen. Der tatarische Künstler Ildar Khanov begann mit seinem Bruder ein „Erlebnishaus für alle“ Bild: feh

Jugendbanden trieben es im Kasan der Sowjetzeit so arg, dass ihre Straßenkriege zum weltweiten Forschungsbegriff wurden. Jetzt baut ein Brüderpaar in der tatarischen Hauptstadt einen Tempel für alle Religionen.

Jugendliche rattern mit ihren Skateboards über die Rampen vor dem Sportministerium in Kasan, der Hauptstadt der halbautonomen Republik Tatarstan in der Russischen Föderation. Zu dem Treffpunkt auf dem Platz beim Seiteneingang zum Kaufhaus "Kolso" mit seinem Saturnring fahren sie mit ihrem Brett unter dem Arm quer durch die 1,14-Millionen-Einwohner-Stadt mit der Metro. Vor fünfzig Jahren, als die Sowjetunion noch eisernen Bestand hatte, hätten sie einander die Köpfe blutig geschlagen. Das "Kasan-Phänomen" fand als Fachbegriff Eingang in die soziologische Wissenschaftsliteratur. In keiner anderen Stadt wurden kriminelle Jugendbanden, die sich Straßenschlachten lieferten, so gut erforscht wie in der Tatarenhauptstadt. Jeder dritte junge Mensch im Alter zwischen zehn und 30 Jahren gehörte einer der 100 Gangs an, die die Metropole terrorisierten.

Wandel nach der Perestroika

Die Umgestaltung (Perestroika) und mehr Offenheit (Glasnost) unter Michail Gorbatschow haben aber insbesondere in der Wolgastadt, durch deren Auland der Strom mit 42 Kilometer am breitesten fließt, einen Wandel zum Guten herbeigeführt. Lediglich eine Sünde ließe sich der Stadtführung und dem Präsidenten Tatarstans, Mintimer Schaimijew, vorwerfen: jene des Verstoßes gegen den Denkmalschutz.

Das neue Kasan-Phänomen
Die Kul-Scharif-Moshee wurde 2005 im Kasaner Kreml in Nachbarschaft zur orthodoxen Kathedrale eröffnet. Bild: feh

Mitten im historischen Kreml, den Iwan IV. 1552 nach der Eroberung Kasans durch die Russen bauen ließ, wurde am 24. Juli 2005 die nagelneue Kul-Scharif-Moschee eingeweiht. Nirgendwo sonst auf der Welt hätten Behörden bei der Baubewilligung derart auf den Ensembleschutz gepfiffen, aber im Falle Kasans geschah es offenkundig in Allahs Willen und in Gottes Namen. Die Kul-Scharif-Moschee, benannt nach dem letzten Imam von Kasan vor der russischen Eroberung, fügt sich in aller Harmonie in den Platz ein, auf dem bereits ihre Vorgängerin stand, die im Krieg 1552 völlig zerstört worden war.

Es ist eine späte Wiedergutmachung. Eine geschichtliche Versöhnung sind auch die Baukräne, die die Mariä-Verkündigungskirche umstellen. Die Basilika der russisch-orthodoxen Kirche, die die Kommunisten als Warenlager entweihten, wird aufwendig renoviert; sie liegt nur einen Steinwurf neben der Moschee.

Das neue Kasan-Phänomen
Gottesdienst in der Mariä-Verkündigungskirche in Kasan: Christen sind mit Muslimen verwandt. Bild: feh

Friedensreligionen

Zwischen den Weltreligionen in Kasan fliegen allerdings keine Steine, die Gebrüder Ildar und Ilgiz Chanow vermauerten sie sogar am Stadtrand zu einem "Tempel aller Religionen". Architekturkritikern mögen bei dem Sammelsurium an Formen und Schnörkeln, Türmchen, Kreuzen und Pagoden aller Himmelsrichtungen die Grausbirnen aufsteigen – zumindest der Wille steht fürs Werk. "Mein Bruder wollte ein Zentrum der Menschlichkeit auf der ganzen Welt schaffen", sagt Ilgiz Chanow, der eine Schürze trägt und für eine Handvoll Besucher vom Gerüst geklettert ist. Seitdem sein Bruder, ein namhafter Künstler der Sowjetzeit, dessen großflächige und kubistische Werke im Westen kaum jemand kennt, verstorben ist, führt Ilgiz den Tempel als dessen Lebenswerk weiter. Man sagt, dass er jetzt erst, nach 26 Jahren, vom Rathaus des Vorortes Staroje Araktschino eine Baugenehmigung erhalten habe. Egal ob bislang ein Schwarzbau oder nicht, das wiegt ohnehin wenig, wenn zu Beginn des Bauprojektes ein göttlicher Befehl stand. Ildar Chanow, der Bildhauer, Maler, Dichter, Wunderheiler und gläubige Muslim, schilderte sein Berufungserlebnis: "Ich hörte eine Stimme, die mir sagte, ‘Ildar, du musst morgen um sechs Uhr früh aufstehen, dir eine Schaufel nehmen und damit beginnen, den Grundstein für einen Tempel aller Religionen zu legen’!"

Wie das "Kasan-Phänomen" zeigte, ist die Friedfertigkeit auch den Tataren nicht in die Wiege gelegt, sie verdankt sich in dem Mischvolk mit Russen menschlicher Reife und Kulturleistung. Rund die Hälfte der Bewohner Tatarstans sind jeweils Muslime und Christen. Man lebt nicht bloß in Hochhaltung der Toleranz nebeneinander, man lebt gut miteinander. "Ich bin Muslim", sagt unser deutschsprachiger Reiseführer Radik, "dass es in unserer Familie durch Heirat genauso Christen gibt, ist für uns selbstverständlich." Dass Prediger weder von der Kanzel einer Kirche noch in einer Moschee Feindbilder malen und Zwietracht säen, darauf hat auch der Staat ein Auge, der von allen Seelsorgern der Religionen eine gediegene theologische Ausbildung verlangt.

Insel Swijaschsk

Wenn in Kasan zwei Tataren aufeinander einschlagen, dann haben sie Helme auf. Auf der Insel Swijaschsk, knapp 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, gewährt ein Brauchtumsverein Fremden Einblicke in den Alltag und die Gepflogenheiten der Tataren. Dazu gehören Vorführungen der alten Kampfeskunst, für die kräftige Burschen in Ritterrüstungen steigen. Gäste können an einem Schießstand auch Bögen und Pfeile des einstigen Reitervolkes ausprobieren. Zur Stärkung werden die Besucher mit tatarischem Essen bewirtet, bei dem gebratenes Pferdefleisch eine fixe Größe darstellt.

Das neue Kasan-Phänomen
Folkloristische Schaukämpfe auf der Wolgainsel Swijaschsk, deren Dorf Unesco-Weltkulturerbe ist. Bild: feh

Die Insel ist nicht nur für Touristen ein Refugium. Reiche Bürger und Geschäftsleute vom Festland haben an den mit Schilfgras bewachsenen Ufern des Kuibyschewer Stausees eine Datscha für das Wochenende gekauft. Die meisten Bewohner bringt die Stadt in Plattenbauten unter, die dank des guten öffentlichen Verkehrsnetzes schnell im Zentrum sind. Kasan ist die drittgrößte Stadt der Russischen Föderation, und ihre junge Bevölkerung gibt sich weltoffen und zielstrebig. In den schmucken Läden in der Uliza Baumana, der Flaniermeile Kasans, sprechen sie ein lupenreines Englisch, akzentfrei, gelernt haben sie es im Internet.

Das neue Kasan-Phänomen
Die Wolga weitet sich vor den Toren Kasans zu einer 42 Kilometer breiten Flusslandschaft aus.. Bild: feh

 

Mit den OÖN nach Kasan

 

OÖN-Leserreise: Die Russlandreise hat Fritz Moser von Moser Reisen zur Chefsache gemacht. Moser sieht sich vor Ort die Angebote für seine Gäste an, erkundet selbst Sehenswürdigkeiten, erfragt bei Einheimischen Besonderheiten, die in keinem Reiseführer zu finden sind. Neues in Russland und das Land überhaupt kennen lernen kann man nun in einer achttägigen OÖN-Leserreise von 20. bis 27. Mai 2019.
Im Rahmen dieser Reise werden nicht nur die Metropolen Moskau und St. Petersburg besucht, sondern auch die bei uns noch kaum bekannte Region Tatarstan bereist.
Angeboten wird die Reise zu einem Preis ab 1649 Euro pro Person. Das Programm: 1. Tag Wien - Moskau, 2. Tag: Moskau, 3. Tag: Ausflug Sergijew Possad, 4. Tag: Kasan, Hauptstadt von Tatarstan (im Bild Kaufhaus Koslo), 5. Tag: Insel Swijaschsk, Ausflug tatarisches Dorf, 6. Tag: Flug nach St. Petersburg, 7. Tag: St. Petersburg, 8. Tag: Peterhof und Rückflug.

Kontakt und Buchung:
Moser Reisen GmbH Graben 18, 4010 Linz, Tel. 0732 / 22 40,
E-Mail: office@moser.at, Internet: www.moser.at

Kulinarik: Tchak-tchak sind eine Art süße Spätzle, die als Süßspeise gegessen werden. Dazu wird Schokolade, Noisette oder Sesam und Honig gegessen. Tokmatch ist eine kräftige Hühnersuppe mit Nudeleinlage. Tradition in der Tatarenküche hat die Verwendung von Pferdefleisch. Es kann luftgetrocknet als Jausenteller serviert werden. Das Frischfleisch schmeckt aber auch vorzüglich als Bratenstück.

Kunst des Sozialismus:
Das Erbe der Vergangenheit trifft man in Russland noch vielfach an. Obwohl längst nicht mehr dieser Ideologie angehörig, hat die Fluglinie Aeroflot noch immer Sichel und Hammer auf den Rümpfen seiner Flugzeuge. Ein kunsthistorisches Muss ist der Besuch der Moskauer U-Bahn, in der es eine Reihe interessanter Figuren und Mosaike gibt, die zur Ehre des Sozialismus hergestellt worden sind. Eine Kuriosität ist der Soldat mit Hund in der Metro-Station „Platz der Revolution“. Es soll Glück bringen, wenn man die glattpolierte Nase des Hundes berührt.

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