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"Das hat zur Entmündigung der Bürger geführt"

Von Wolfgang Braun   05.September 2015

In seinem Büro im Verfassungsgerichtshof auf der Freyung in Wien trafen wir Gerhart Holzinger zum Interview. Der gebürtige Gmundner hält grundlegende Reformen in Österreich für unvermeidlich.

 

OÖNachrichten: Europa muss gegenwärtig einen enormen Flüchtlingsstrom bewältigen. Finden Sie, dass die EU im Umgang mit dieser Herausforderung eine besonders glückliche Rolle spielt?

Gerhart Holzinger: Nein, bedauerlicherweise nicht. Das Problem ist im Sommer in einer Weise eskaliert, die die Staaten bzw. die Union zum Teil überfordert. Es ist müßig zu spekulieren, ob das vorhersehbar war. Aber es stellt sich jetzt heraus, dass das System der Dublin-III-Regelung – also, dass jenes Land verantwortlich ist, in das ein Flüchtling zuerst einreist – aus den verschiedensten Gründen nicht funktioniert. In Österreich ist durch den tragischen Tod von 71 Menschen die Betroffenheit besonders groß. Dieser Betroffenheit kann sich niemand, der ein Herz im Leib hat, entziehen. Dann kommt es zu Situationen wie in Budapest, wo man den Eindruck gewinnt, dass staatliche Institutionen komplett überfordert sind. Und da wird es sehr problematisch: Denn das führt dazu, dass die Menschen, die zu uns kommen und in einer schwierigen Situation sind, nicht die Hilfe finden, die sie brauchen. Zweitens entsteht der Eindruck, dass staatliche Institutionen die Sache nicht mehr im Griff haben.

In Österreich hat die Innenministerin schon sehr früh Zeltlager aufstellen lassen. Wie gehen wir mit der Herausforderung um?

Wann immer eine Situation eintritt, die eine Organisation an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bringt, sind ein kühler Kopf, Managementfähigkeiten, Flexibilität und auch der Mut zum unbürokratischen Handeln gefragt. Im Gegensatz zum Chaos in Budapest habe ich auf dem Westbahnhof das Vorgehen von Polizei, ÖBB und Hilfsorganisationen als wohltuend empfunden. So muss man das machen. In einer Ausnahmesituation muss man zuerst schauen, dass man diese in einer Weise bewältigt, die den Betroffenen hilft und den anderen signalisiert: Es ist zwar schwierig, aber wir haben das im Griff.

Braucht es ein einheitliches EU-Asylrecht, um der Lage auf Dauer Herr zu werden?

Diese Herausforderung lässt sich nicht mehr nationalstaatlich lösen. Die Menschen aus Syrien flüchten zu uns, weil es dort seit Jahren Bürgerkrieg gibt und die Weltgemeinschaft die Sache seit Jahren nicht lösen kann oder will. Es bräuchte eine gesamteuropäische Denkweise und Initiative. Aber leider spielt sich in der EU dasselbe ab wie in Österreich. Solange man nicht unmittelbar betroffen ist, trachtet man danach, das Problem von sich zu schieben und andere damit alleinzulassen. Das ist kurzsichtig. Wesentlich besser wäre es, die Kräfte zu bündeln. Ich verstehe nicht, warum man nicht etwas Geld investiert hat, um die Situation in den Flüchtlingslagern im Libanon oder in der Türkei zu stabilisieren. Die Menschen aus Syrien haben die Hoffnung, wieder zurückzukehren. Das wäre leichter, wenn sie ihrer Heimat nahe sind.

Sie haben in der Vergangenheit unser Asylrecht als Flickwerk kritisiert. Ist es für diese Flüchtlingswelle gerüstet?

Dass die Regierung jetzt eine verfassungsrechtliche Regel geschaffen hat, um sich Durchgriffsrechte zu sichern, macht das Grundproblem deutlich: Die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern hat innerhalb weniger Jahre immer wieder gewechselt. Das ist das Gegenteil von dem, was man Konzept nennt. Problematisch ist, dass die Unterscheidung zwischen Asylwerber und Zuwanderer völlig verloren gegangen ist. Die, die aus Furcht vor Verfolgung zu uns kommen, aufzunehmen, ist vergleichsweise einfach. Aber wenn man lange Zeit keine geordnete Zuwanderungsregeln hat, wird das Problem immer größer. Jetzt sollte man rasch klären, wer ist tatsächlich Flüchtling, und wer kommt zu uns, um ein besseres Leben zu haben. Letzteres ist als Anliegen des Einzelnen verständlich, nur können Österreich, Deutschland oder Schweden das nicht alleine lösen.

Sie haben mehrfach einen Reformruck in Österreich gefordert. Warum ist der noch immer nicht durch das Land gegangen?

Ich fürchte, dass der Leidensdruck noch nicht groß genug ist.

Bund und Länder streiten um Aufgaben und Finanzen. Blockiert das die Republik?

Sicher, das ist das Hauptproblem. Aufgaben und Finanzierung sind nicht klar strukturiert. Es gibt zahlreiche Kompetenzüberschneidungen und Parallelstrukturen. Die simple Regel "Wer zahlt, schafft an" gilt nicht mehr. In diesem System kommt es zwangsläufig dazu, dass Transferzahlungen zwischen Bund und Ländern selbst für Experten nicht mehr durchschaubar sind. Wir leisten uns Mängel, die uns tagtäglich Geld und Effizienz kosten. Unser System der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Man weiß das seit langem und ändert nichts.

Muss auch Oberösterreich im System etwas ändern? Hier gibt es immer noch eine Proporzregierung und eine Legislaturperiode von sechs Jahren.

Da sind Reformen überlegenswert, aber an den grundsätzlichen Problemen ändert das nichts. Wir wissen, dass das Förderungswesen nicht klar geregelt ist, sondern Bund und Länder ein und denselben Gegenstand fördern. Das sind etliche Milliarden Euro im Jahr, die nicht effizient eingesetzt werden. Man müsste das ändern. Das bedeutet, dass die eine oder andere Seite die Möglichkeit verliert, Subventionen zu verteilen. Weil das ein Instrument politischer Macht ist, will man es aber nicht aufgeben. Das sind Probleme. Dass wir uns einen Landesschulrat leisten mit einem Vizepräsidenten, wo man wirklich die Frage stellen kann, ob man die braucht – das ist ärgerlich. Das hat den verheerenden symbolischen Effekt, dass bei all jenen im Staat, die Reformen durchführen müssten, die Neigung dazu nicht gerade gesteigert wird.

In der Steiermark gab es eine rot-schwarze Reformpartnerschaft, die bei den Wahlen schwere Verluste erlitten hat. Reduziert nicht das auch die Neigung, Reformen zu wagen?

Sie sprechen einen Punkt an, der mir sehr wichtig ist: Wie in Österreich Politik gemacht wird, das hat auch zur Entmündigung der Bürger geführt. Ich möchte das System nicht schlechtreden. Das, was die beiden einst großen Parteien etabliert haben, hat Österreich in erstaunlich kurzer Zeit einen gigantischen Aufschwung beschert. Nur: Jedes System überlebt sich. Und dieses System hat auch dazu geführt, dass die Bevölkerung die Verantwortung nie bei sich gesehen hat, sondern immer nur bei der Politik. Darum hat die Politik heute auch die Sündenbockrolle. Auf der anderen Seite müssen die Wähler zum Beispiel angesichts des Kärntner Hypo-Desasters wissen: Wenn ich mit meiner Stimme eine Politik unterstütze, die sehr großzügig mit öffentlichen Mitteln umgeht, laufe ich Gefahr, dass ich letztlich als Steuerzahler dafür zur Kassa gebeten werde. Es hat keinen Sinn zu glauben, dass man sich alles wünschen kann und von irgendwoher wird das Geld dafür schon kommen. Darum ist das Schweizer System, wo der einzelne Bürger bei Volksabstimmungen ein hohes Maß an Verantwortung übernehmen muss, ein positives Beispiel.

Sie haben sich für den Ausbau der demokratischen Grundrechte starkgemacht. Die Regierung wollte das auch angehen, hat das aber jetzt offensichtlich auf die lange Bank geschoben.

Als es vor einiger Zeit große Korruptionsfälle gegeben hat, wurde eine Demokratiereform als Ventil propagiert. Mittlerweile wurde die Aktion wieder abgeblasen. Man geht sehr sorglos mit fundamentalen Themen um.

Sie sind gebürtiger Gmundner: Wie ist denn Ihre Außensicht von Wien auf Oberösterreich?

Ich bin voreingenommen, weil ich mich dem Land sehr verbunden fühle und das Emotionale nicht ausblenden kann. Ich habe den Eindruck, dass die Verwaltung in Oberösterreich exzellent ist. Aber der Handlungsbedarf bezüglich Staatsreform gilt für Oberösterreich natürlich genauso wie für alle anderen Bundesländer.

Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Politiker-Generationen in Österreich erlebt. Warum hat man den Eindruck, dass es früher mehr Persönlichkeiten von Format gab als heute?

Man darf nicht den Fehler machen, die Gegenwart überkritisch zu betrachten und die Vergangenheit zu glorifizieren. In Österreich gibt es eine Reihe von Politiker-Persönlichkeiten, über die man in 40 Jahren Ähnliches sagen wird wie heute über Politiker aus den 60er und 70er Jahren. Aber die Zahl der qualifizierten Menschen, die sich heute ein Amt in der Politik antun, ist geringer geworden. Ich frage oft in Gesprächen: Wann haben Sie das letzte Mal einem qualifizierten jungen Menschen geraten, in die Politik zu gehen? Oder haben Sie gesagt: Pass auf, lass die Hände von der Politik, geh in die Privatwirtschaft? Das ist ein Problem, das wir alle lösen müssen.

 

Zur Person

Gerhart Holzinger (68) ist seit 1. Mai 2008 Präsident des Verfassungsgerichtshofes (VfGH). Der gebürtige Gmundner ist Experte für Grund- und Menschenrechte, am VfGH ist er seit 1995. Er ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

Zur Lage des Landes

Welche Visionen haben Sie für unser Land? Wir befragen prominente Oberösterreicher, was sich ändern soll. Aber wir fragen auch unsere Leser. Schicken Sie uns Ihre Vorschläge unter meinoberoesterreich@nachrichten.at

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