Ukraines zerstörte Infrastruktur - Schlange stehen und Wasser schleppen
KIEW. Seit bei Kämpfen im April die Trinkwasserleitung nach Mykolajiw zerstört wurde, sind die Menschen in der südukrainischen Hafenstadt täglich stundenlang damit beschäftigt, sich Wasser zu organisieren.
In der Ferne donnert die Artillerie, doch Anna Bondar wartet geduldig in der Schlange. Selbst als die Sirenen vor einem Luftangriff warnen, bleibt die 79-Jährige vor dem Tankwagen stehen. Zwei bis drei Stunden brauche sie jeden Tag für das Wasserholen, erzählt Bondar. Ihr Mann kann ihr nicht helfen, er ist bettlägerig. "Ich bin sehr müde", sagt sie. Schon bald wird es heiß werden hier im Süden der Ukraine, und das Wasserschleppen damit noch anstrengender.
Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Auto sind die Menschen in Mykolajiw unterwegs auf der Suche nach den Tankwagen. Die Wasserversorgung ist nur eine von vielen Schwierigkeiten des Kriegsalltags. Auch vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen, teilweise warten die Menschen stundenlang auf Benzin, denn wegen der russischen Angriffe auf Raffinerien in der Ukraine ist auch Treibstoff knapp. Viele Geschäfte und Unternehmen in der Hafenstadt sind geschlossen, Schulunterricht findet nur noch online statt.
Zu Beginn des Krieges hatten die russischen Truppen versucht, Mykolajiw einzunehmen. Jetzt verläuft die Front einige Kilometer entfernt von der strategisch wichtigen Stadt, in der vor dem Krieg eine halbe Million Menschen lebten.
120 Liter Wasser mit dem Fahrrad schleppen
"Ich habe eine vierköpfige Familie. Können Sie sich vorstellen, wie viel Wasser wir zum Waschen und Kochen brauchen?", fragt Walerij Barischew, ein 27 Jahre alter Bäcker, während er frisch gefüllte Wasserkanister auf den Gepäckträger seines Fahrrads schnallt. Auch für die Bäckerei braucht er Wasser. "Jeden Tag muss ich etwa 120 Liter holen", rechnet Barischew vor.
Die Militärverwaltung schätzt, dass es noch "mindestens einen Monat" dauern wird, bis wieder Wasser aus den Leitungen fließt. "Wir versuchen, das Problem so schnell wie möglich zu beheben", sagt Armeesprecher Dmytro Pletentschuk. "Aber das braucht Zeit, weil viele technische Probleme gelöst werden müssen, etwa beim Bohren von Brunnen und bei der Wasseraufbereitung."
Bis es so weit ist, müssen die Bewohner von Mykolajiw Wasser in Flaschen kaufen - eine finanzielle Belastung für all jene, die wegen des Krieges nicht arbeiten können. Oder weiter vor den Tankwagen Schlange stehen, wie der Rentner Viktor Odnutow. "Manchmal komme ich jeden zweiten Tag hierher, manchmal sogar zweimal am Tag", erzählt der 69-Jährige. "Das ist belastend, seelisch und auch körperlich. Gott sei Dank kann ich etwa 20 Liter transportieren. Aber wenn ich Rückenschmerzen habe, kann ich nicht einmal eine Fünf-Liter-Flasche mitnehmen."
Wolodymyr Pobedynskyj war angenehm überrascht zu sehen, dass er in seinem Alter - er ist 82 - noch die Kraft hat, Wasser zu schleppen. Auch vor der bevorstehenden Hitze hat er keine Angst: "Mein Körper ist daran gewöhnt", sagt er.
Doch von dem Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine hat sich der gebürtige Russe noch nicht erholt. "Das macht mich sehr traurig", erzählt er und erinnert sich an die vielen Reisen mit seiner Frau zu Familie und Freunden nach Russland. "Wir haben unseren Eltern geholfen und uns um ihren Garten gekümmert", sagt er. "Jetzt können wir nicht einmal mehr hinfahren, um ihre Gräber zu pflegen."