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"Irgendwo in Kiew ist jetzt Disco"

Von Stefan Scholl, 20. Juli 2019, 00:04 Uhr
"Irgendwo in Kiew ist jetzt Disco"
30.000 ukrainische Soldaten kämpfen ständig im Donbas. Bild: EPA

Nach fünf Jahren Krieg hat ein Großteil der ukrainischen Gesellschaft das Schlachtfeld im Donbas verdrängt. Aber Tausende Volontäre und Teilzeitkämpfer pendeln weiter zwischen Front und Hinterland, zwischen Alltag und Kampf. Eine Minderheit, die die Seele der Ukraine zusammenhält.

Samstagabends sitzt Maxim auf seiner Ledercoach im "Schrank", trinkt Hefeweizen und redet. Der 35-Jährige erzählt von dem Golfschläger, den er 2014, im Jahr des Maidan-Umsturzes, kaufte, um bei Straßenschlachten besser bewaffnet zu sein. Aber auch vom Szenebeisl "Schrank", das er 2008 mitgründete. Und von den Bands, die hier aufgetreten sind. "Mascha und die Bären, Noize MC, Kirpitschi … viele russische und fast alle ukrainischen Gruppen."

Russische Popgruppen kommen nur noch selten nach Odessa. Aber für Mittwoch kündigt der "Schrank" eine Jam-Session an, ein Plakat verspricht "Hedonismus und Freiheit". Maxim, der aussieht wie Robbie Williams’ junger Bruder, sagt: "Man merkt hier kaum, dass in der Ukraine Krieg herrscht."

30.000 Kämpfer an der Front

Das ist nicht nur im "Schrank" in Odessa so. Die täglichen Verlustmeldungen von der Front im Donbas, mal sechs Verletzte, mal zwei Tote, bedeuten für viele der 42 Millionen Ukrainer inzwischen nicht mehr als der Wetterbericht. Gut 30.000 ukrainische Soldaten kämpfen ständig im Donbas. Sieben bis neun Millionen ihrer Landsleute aber fahren jährlich als Saisonarbeiter ins Ausland. Während Maxim zu jener Minderheit gehört, die regelmäßig die unsichtbare Linie zwischen dem ukrainischen Hinterland und dem Frontgebiet im Osten überquert, die Grenze zwischen Frieden und Krieg.

Eigentlich ist Maxim IT-Unternehmer, hat sich auf Bezahl-Software für Online-Shops spezialisiert. Er verdient gut, könnte seine Firma auch aus Barcelona betreiben. Das freie und tolerante Europa, für das er in der Ukraine kämpft, bekäme Maxim auch ohne Krieg. Aber 2014 machten im Donbas prorussische Separatisten gegen die demokratische Maidan-Revolution Front, Tausende Patrioten drängten in ukrainische Freiwilligenbataillone, auch Maxim wollte kämpfen. Aber ein Berufsoffizier riet ihm ab. "Er hat gesagt, Leute mit Organisationstalent hinter der Front seien viel wichtiger."

Maxim wurde Volontär. Damals begannen Tausende Zivilisten Spenden zu sammeln, um Kleidung und Waffen für die miserabel ausgerüstete Armee zu kaufen. Maxim erstand im Internet Tonnen ausgemusterter britischer Wüstenuniformen, schaffte sie an die Front. Später hörte er von einer Ladung Kevlar-Kunstfasern aus Kanada. Das hochfeste, aber leichte Material eignet sich bestens für kugelsichere Westen. Maxim entwarf eine Splitterschutzweste, gab sie bei einer Schneiderei in Odessa in Serie. Inzwischen begegnet er seiner Weste im Kriegsgebiet oft.

"Kaum einer ahnt, wie wichtig für Soldaten eine gute Etappe ist", Maxim verbringt etwa drei Monate jährlich im Krieg, den Nachschub, den er mitbringt, bezahlt er zum Großteil aus eigener Tasche. "Ich habe nie gezählt, wie viel es war", sagt er. "Aber eine Eigentumswohnung in Odessa habe ich wohl für die Front ausgegeben."

Maxims Grenze zwischen Frieden und Krieg verläuft im Kopf, irgendwo auf der Zugfahrt von Odessa nach Konstantinowka im Mittelabschnitt der Donbas-Front. Das Leben dahinter erscheint ihm oft komfortabler: Alltagssorgen fielen weg, die Verpflichtungen würden weniger, aber wichtiger.

Auch die Menschen werden wichtiger. Die Kriegsfreiwillige Jana Sinkewitsch schleppte als Sanitäterin Hunderte Verwundete vom Schlachtfeld, bevor sie sich 2016 bei einem schweren Autounfall auf einer Straße ins Hinterland die Wirbelsäule brach. Sie wurde in Israel operiert, direkt danach erklärte sie im Rollstuhl ihren Unterschied zwischen Alltags- und Kriegsukrainern: "Ich habe keine Freunde, aber ich habe Blutsbrüder, die auf meine Rückkehr warten."

Kunsttischler & Teilzeitkämpfer

Ruslan trinkt kein Bier, sondern türkischen Kaffee mit Milch. Wir sitzen in einem krimtatarischen Lokal in Kiew. "Wenn ich nach Hause komme", erzählt er, "spähe ich zwei Wochen lang in jedes Gebüsch, es könnte ja ein Scharfschütze drinsitzen." Ruslan, ein gedrungener Mittfünfziger, ist Kunsttischler – und Teilzeitkämpfer. Er fährt fünf-, sechsmal im Jahr für mehrere Wochen an die Front, mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter. Sie sprechen sich mit den örtlichen Armeebefehlshabern ab und stoßen ins Niemandsland vor, auch hinter die feindlichen Linien. Man kläre auf, lege Minen, vor allem markiere man feindliche Ziele mit Radiosonden für die Artillerie, sagt er. Da vorne gehe es viel weniger dramatisch, heroisch und blutig zu als in Kriegsfilmen. "Und das Größte ist, eine Aufgabe zu erfüllen, ohne entdeckt zu werden, ohne einen Schuss."

Dutzende solcher Kleinkampfgruppen zwischen fünf und 15 Mann rotieren an der Front. Und Volontäre schaffen weiter Technik und Medikamente nach vorne oder geben Kindern in den "grauen" Dörfern zwischen den Kampflinien Englischunterricht. Es ist eine Minderheit, aber sie hält die Seele des Landes in diesem hybriden Krieg zusammen.

Maxim organisiert inzwischen Aufklärungsdrohnen für die Front, bildet Soldaten an ihnen aus. "Meine erste Frage ist immer, wer früher eine Playstation gehabt hat". Er steuert auch selbst Drohnen, filmt und fotografiert feindliche Positionen, Ziele für die eigene Artillerie, wird als Operator selbst zum Ziel für die Geschütze auf der anderen Seite. Über allem stehe ständig die simple Sachfrage des Krieges: "Je weniger von ihnen da sind, umso mehr überleben von uns."

Ruslan trainierte vor seinem ersten Fronteinsatz ein Jahr in einem Ausbildungszentrum. Dort lehrte ihn ein Psychologe, sich abstrakte Bilder auszudenken, um die Kriegswirklichkeit zu meistern. "Ob Gegner, auf die ich schieße, Tote oder Verwundete auf unserer Seite, ich stelle mir vor, es seien Dummys." Er meide an der Front enge Freundschaften, halte Abstand, darum habe er zuhause keine Albträume.

Auf Facebook schreibt Maxim weniger über den Krieg als über die Zivilgesellschaft, die auch im Hinterland noch nicht angekommen ist: "Mülltrennung wird bei uns einfach nicht modern, es gibt keine Busrampen für Rollstühle. Und niemand möchte nur bei Grün über die Ampel fahren." Dafür würden alle gerne wie Steve Jobs parken – ohne Nummernschild auf Behindertenplätzen.

Ruslan und Maxim sagen, natürlich sei der Adrenalinspiegel jenseits der Grenze zum Krieg höher. "Aber vor allem ist dort Ukraine", sagt Maxim. Er habe keinen Bedarf, anderswo den Nervenkitzel des Krieges zu erleben.

Als Faschisten beschimpft

Ruslan sagt, er sei an die Front gegangen, weil ihn empörte, wie seine russischen Verwandten über den Maidan redeten: "Gestern waren wir für sie noch normale Menschen, heute beschimpfen sie uns als Faschisten". Gleichzeitig kurvten ihre Panzer in seinem Land herum. "Sie haben uns diesen Krieg aufgezwungen, wir antworten auf unsere Art."

Es ist längst nach Mitternacht im "Schrank". Maxim trinkt Wasser. Er erzählt von einem Gespräch zwischen Frontkameraden während der Abwehrschlacht um den Donezker Flughafen, als sie unter heftigem Beschuss auf der Erde lagen. "Irgendwo in Kiew ist jetzt Disco", schimpfte der eine. "Dafür sind wir ja hier, dass in Kiew Diskothek ist", erwiderte der andere. Wer Krieg führt, gewöhnt sich daran, dass sein Land zwei Leben lebt.

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Autor
Stefan Scholl
Russland-Korrespondent
Stefan Scholl
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1  Kommentar
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Erich4614 (105 Kommentare)
am 20.07.2019 14:51

BANKROTT ODER KOMPROMISS

Die Maidan-Regierung fordert eine bedingungslose Unterordnung der Separatisten und eine Beendigung ihrer Unterstützung durch russische Aktivisten. Die Separatisten wollen einen Anschluss an Russland. Beides wird nicht realisierbar sein. Die Ukraine und die Donbass-Republiken sind schon jetzt die ärmsten Gebiete Europas und nähern sich dem Bankrott.

Eine jedenfalls weit bessere Lösung als der Status Quo wäre das erfolgreiche Modell Südtirol. Die Oblaste Donezk und Lugansk erhalten dieselben Autonomierechte wie Südtirol in der italienischen Verfassung. Regionale Entscheidungen werden von den gewählten Institutionen des autonomen Donbass getroffen. Die beiderseitige Entmilitarisierung ermöglicht eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.

Für manche Menschen ist die Kampfmoral der ukrainischen Truppen am wichtigsten, der größte Wunsch der meisten Menschen ist aber die Schaffung von Frieden.

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