"Heilsamer Schock könnte in 15 Jahren zum Wiederbeitritt der Briten führen"
LINZ/WIEN. Der Brexit schade Großbritannien und auch der EU gewaltig, sagt der Politologe Otmar Höll im OÖN-Interview. „Aber der größere Schaden wird mittel- bis langfristig bei den Briten bleiben.“ Es könne daher gut sein, „dass die Briten relativ rasch einsehen, dass es ohne EU doch nicht geht“.
OÖN: Überrascht Sie der Ausgang des Brexit-Referendums?
Otmar Höll: Ja. Ich habe angenommen, dass nach der Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox das Kopf-an-Kopf-Rennen zugunsten der EU-Befürworter ausgehen könnte. Aber offenbar ist es mittlerweile so, dass Menschen häufig nicht mehr ihren Interessen gemäß abstimmen, sondern aus dem Bauch heraus. Das ist beim Brexit wieder einmal eingetreten.
Was sind denn weitere Gründe für die Entscheidung der Briten?
Da ist sicher einmal die britische Ambivalenz gegenüber der EU, die weit zurückreicht – sogar über den EWG-Beitritt vom Jahr 1973 hinaus. Das Vereinigte Königreich hat zwar nach 1945 seinen Status als Supermacht verloren, konnte aber von der Haltung nicht loslassen, dass man etwas Besonderes sei. Dazu kommt die Eigensinnigkeit der Insulaner. Andererseits hat aber auch die EU viele Fehler gemacht. Und wenn ich von EU spreche, dann meine ich auch die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Brüssel hat in den vergangenen Jahren viel zu wenig darauf gehört, was in den Menschen, Gesellschaften und Mitgliedsstaaten vorgeht. Und die EU hat es – insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges – verabsäumt, mit den Menschen in Kommunikation zu treten, was derartige Entwicklungen (zunehmende Komplexität, Globalisierung, Soziale Medien etc.) bedeuten. Das nutzen radikale Rechtspopulisten aus, die auf all diese komplexen Fragen nur eine einfache Antwort geben: den Nationalismus.
Hat Großbritannien oder die EU mehr zu verlieren?
Der Brexit bringt Schaden für Großbritannien, für die EU – und auch für den gesamten Westen. Der Schaden ist für beide Seiten gewaltig. Die politische Kraft der EU ist ohne die Briten global gesehen geringer. Aber der größere Schaden wird mittel- bis langfristig bei den Briten bleiben, davon bin ich überzeugt. Und dass ein Mann wie Premier David Cameron aus parteipolitischen Gründen so ein Referendum ansetzt, ist Anti-Politik.
Kann der Schock für die EU und für die Briten nicht heilsam sein?
Ja, längerfristig könnte sich das durchaus als heilsam erweisen. Wären die Briten dabei geblieben und weiterhin stets mit einem Bein draußen gestanden, wäre das ja auch nicht gut gewesen. Es kann gut sein, dass die Briten relativ rasch einsehen, dass es ohne EU doch nicht geht – und dieser heilsame Schock könnte in 15 bis 20 Jahren zum Wiederbeitritt führen.
Halten Sie das für möglich?
Das halte ich überhaupt nicht für ausgeschlossen! Allerdings braucht es dafür eine neue Generation von Politikern. Dafür spricht das Abstimmungsverhalten: Je jünger die Leute, desto eher votierten sie für den EU-Verbleib.
Wird’s die britische Wirtschaft nun durchschütteln?
Großbritannien hat eine schwache Wirtschaftsstruktur, das Land ist wie kein zweites in der industrialisierten westlichen Welt von De-Industrialisierung betroffen. Ein Vergleich der Industrien zeigt, dass die Produktivität in Großbritannien um 20 Prozent schwächer ist als in Frankreich oder in den USA. Der Brexit kann also auch in einer sehr schwierigen Situation für die Briten enden.
Wie soll die EU auf den Brexit reagieren – mit Härte gegenüber London?
Die EU muss sich moderat verhalten, aber ganz klar die Interessen der verbleibenden EU-27 vertreten und hart verhandeln. Gleichzeitig soll man den Briten aber nicht alle Möglichkeiten verstellen. Aber eines ist klar: Die Zeit der politischen Enthaltsamkeit, in der man keine klare Position beziehen will, ist vorbei.
Droht ein Zerfall des Vereinigten Königreichs?
Ja, sogar ein Zerfall ist möglich. Aber zumindest werden Nordiren und Schotten, falls sie drinnen bleiben, wieder mehr Rechte von der Zentralregierung einfordern.
Apropos Nordirland: Der Friedensprozess ist ja noch immer fragil, könnte der Konflikt wieder gewaltsam aufflammen?
Das ist durchaus möglich. Wünsche nach einer Vereinigung mit Irland wurden von den katholischen Republikanern ja bereits geäußert. Und wenn zwischen Nordirland und der Republik Irland tatsächlich wieder eine feste Grenze eingezogen wird, wird das radikalen Kräften Auftrieb geben. Dazu muss man sehen: Aufgrund der demographischen Entwicklung verschieben sich die Kräfteverhältnisse von den Protestanten in Richtung der Katholiken. Und laut Karfreitagsabkommen von 1998 reicht eine einfache Mehrheit für die Abhaltung eines Vereinigungs-Referendums. Und außerdem hat Nordirland wie keine andere britische Region von der EU profitiert.
Zur Person
Der Politologe Otmar Höll ist gebürtiger Linzer und Experte für Internationale Politik.
Er hat u. a. 16 Jahre lang das „Österreichische Institut für Internationale Politik“ in Wien geleitet und lehrte viele Jahre am Institut für Politikwissenschaften an der Uni Wien.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die EU.
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