Medizin-Nobelpreis an zwei US-Forscher für Entdeckung der microRNA
STOCKHOLM. Der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ist am Montag den US-Forschern Victor Ambros und Gary Ruvkun für die Entdeckung der microRNA und ihre Rolle bei der posttranskriptionellen Genregulation zuerkannt worden.
Es handle sich um die "Entdeckung eines grundlegenden Prinzips, das die Regulierung der Genaktivität regelt", erläuterte das Karolinska-Institut in Stockholm. Die Verkündung der Auszeichnung für Medizin bildet traditionell den Auftakt für die Nobelpreis-Woche.
Victor Ambros (70) arbeitet an der University of Massachusetts Medical School, Gary Ruvkun (72) an der Harvard Medical School sowie am Massaschusetts General Hospital. Als der Preis bekanntgegeben wurde, war es an der US-Ostküste noch zeitig in der Früh. Ruvkun wurde deswegen vom Anruf der Nobelversammlung geweckt und klang am Telefon noch sehr müde. Ambros hingegen ging zunächst gar nicht ans Telefon. "Ich habe eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen und hoffe, dass er mich bald zurückruft", sagte der Sekretär der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann.
Ursprünglich waren die beiden Forscher daran interessiert, wie sich verschiedene Zelltypen aus der jeweils gleichen Erbinformation herausbilden, die in allen Zellen in identischer Form enthalten ist. Dabei fanden sie winzige Erbgut-Teile - genannt microRNA - in Fadenwürmern (Caenorhabditis oder C. elegans), die sich später als auch in anderen Organismen aktiv herausstellten. So wisse man heute, dass das menschliche Genom die Bauanleitung für über tausend microRNAs enthält, hieß es bei der Preisträger-Bekanntgabe. Sie nehmen eine wichtige Rolle in der gezielten Umsetzung von genetischer Information in bestimmte Eiweiße (Proteine) ein.
Unscheinbarer Fadenwurm als Schlüssel
Als Schlüssel zu der Entdeckung von Ambros und Ruvkun entpuppte sich der unscheinbare Fadenwurm, an dem die beiden Wissenschafter ab den 1980er-Jahren forschten. Dieses nur rund einen Millimeter lange Tier verfügt trotz seiner Größe über verschiedene Zelltypen. Seit den 1960er-Jahren dachte man, dass die Übersetzung der DNA über sogenannte Transkriptionsfaktoren geregelt wird, die an bestimmte DNA-Regionen anbinden, die dortigen Informationen in Messenger-RNA (mRNA) übersetzen, die dann jenen Strukturen in der Zelle sozusagen den Auftrag erteilt, ein bestimmtes Protein aufzubauen. Bis die beiden nunmehrigen Medizin-Nobelpreisträger im Jahr 1993 ihre grundlegende Arbeit im Fachmagazin "Cell" veröffentlichten, in der sie einen weiteren Regulationsweg vorstellten, ging man in der Wissenschaft davon aus, dass der Zugang über die mRNA der einzige Weg war.
Die beiden US-Forscher interessierten sich dafür, wie bei C. elegans über Gene die zeitliche Abfolge der Programme zur Bildung von verschiedenen Zelltypen wie Nerven- oder Muskelzellen geregelt wird. Bei zwei mutierten Wurmstämmen namens "lin-4" und "lin-14" war diese Abfolge gestört. Bei der Analyse der Funktion der hier veränderten Erbgut-Teile wurde ihnen klar, dass "lin-4" auch das Gen "lin-14" beeinflusste. Wie dies geschah, konnten Ambros und Ruvkun in der Folge klären.
Neues Grundprinzip der Genregulation
So erkannte Ambros, dass "lin-4" ein erstaunlich kurzes RNA-Molekül herstellte, das keinen genetischen Code enthielt, mit dem es die Proteinproduktion anregen könnte. Es schien also als ob diese "microRNA" für die Hemmung des Gens "lin-14" verantwortlich war. Wie dies vonstatten ging zeigte wiederum Gary Ruvkun, der dem "Scientific Advisory Board" des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien angehört. Der Forscher, der laut IMBA-Angaben gegenüber der APA erst vergangene Woche zu Besuch in Wien war, erkannte wie diese microRNA nicht etwa die Bildung von mRNA auf Basis von "lin-14", sondern die Produktion des Eiweißstoffes auf dessen Basis unterbindet. Die Veröffentlichung dieses neuen Grundprinzips der Genregulation, wie es seitens des Nobelpreiskomitees heißt, stieß aber zunächst nicht auf großen Widerhall in der Fachwelt.
Das änderte sich allerdings um das Jahr 2000 als klar wurde, dass dieser Mechanismus nicht wie vielfach angenommen eine Eigenart der Biologie der kleinen Fadenwürmer war. Wiederum war es damals Ruvkuns Forschungsgruppe, die über die Entdeckung einer weiteren microRNA berichtete. Mittlerweile sei klar, dass es eine Unzahl an microRNAs gibt, die in verschiedensten, auch komplexen Organismen eine entscheidende Rolle spielen: Diese "unerwartete Ebene" der Genregulation, sei "während der gesamten tierischen Entwicklung, wie auch bei der Entwicklung von erwachsenen Zelltypen von entscheidender Bedeutung", heißt es.
Victor Ambros und Gary Ruvkun
Victor Ambros forscht und lehrt im Nordosten der USA. Er wurde im US-Bundesstaat New Hampshire geboren und wuchs im benachbarten Vermont auf. Seine Doktorarbeit schrieb er am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort begann er als Postdoc auch, die Entwicklungszeit der Fadenwürmer zu untersuchen. Nach langjährigen Stationen an der Harvard University und an der Dartmouth Medical School erhielt er eine Professur an der University of Massachusetts Medical School.
Gary Ruvkun stammt aus Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien und verbrachte sein bisheriges Berufsleben ebenfalls in den USA. Er studierte an der University of California und der Harvard University, ehe er an das MIT in Cambridge wechselte. Dort untersuchte er, wie auch Ambros, in den 1980er Jahren Fadenwürmer im Labor von Robert Horvitz, der 2002 den Nobelpreis erhielt. Danach forschte Ruvkun am Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School, wo er derzeit Professor für Genetik ist.
Nobelpreiswoche hat begonnen
Am Dienstag erfolgt die Bekanntgabe der Preisträger für Physik, Chemie folgt am Mittwoch, Literatur am Donnerstag, der Friedens-Nobelpreis am Freitag und am Montag darauf die Wirtschaftswissenschaften. Die Auszeichnungen sind heuer mit je elf Millionen Schwedischen Kronen (969.000 Euro) dotiert. Die Überreichung findet am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, statt.
Im Vorjahr ging der Medizin-Nobelpreis an die Ungarin Katalin Karikó und den US-Forscher Drew Weissman. Sie wurden für ihre Entdeckungen zur Modifikation der Nukleosidbasen, die die Entwicklung wirksamer mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 ermöglichten, geehrt.
Dieser Artikel wurde zuletzt am 7.10.2024 um 14.11 Uhr aktualisiert.