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In Keller eingesperrte Familie: Österreicher wanderte von Perg in die Niederlande aus

Von nachrichten.at/apa   16.Oktober 2019

Noch sind im Fall von Ruinerwold viele Fragen offen. Laut österreichischem Außenministerium will der 58-jährige Österreicher keinen Kontakt mit den heimischen Behörden. "Er wünscht keinen Kontakt zur österreichischen Botschaft in Den Haag und will keine konsularische Hilfe", sagte der Außenministeriumssprecher, Peter Guschelbauer. Bei dem Festgenommenen handelt es sich um einen Wiener, der 2010 von Oberösterreich aus Pabneukirchen im Bezirk Perg aus in die Niederlande ausgewandert ist, wie APA-Recherchen ergaben. In der Mühlviertler Gemeinde zeigten sich ehemalige Nachbarn gegenüber dem ORF entsetzt. Er sei "freundlich, nett und zuvorkommend" gewesen sein. In der kleinen Gemeinde hatte er eine kleine Landwirtschaft geerbt und dort auch einige zeit gelebt.

Die niederländische Staatsanwaltschaft teilte am Mittwoch mit, dass der festgenommene Österreicher der Freiheitsberaubung verdächtigt wird. Er hatte einen Bauernhof in Ruinerwold gemietet, auf dem ein Vater mit sechs erwachsenen Kindern offenbar neun Jahre völlig isoliert in einem kleinen Raum gehaust hatte. Der Mann solle Donnerstag dem Haftrichter vorgeführt werden, hieß es.

Österreicher hat Bauernhof angemietet

Vor neun Jahren hat sich der 58-Jährige in Ruinerwold in der Provinz Drenthe niedergelassen und den Bauernhof angemietet. Er dürfte in der Gegend auch als Tischler gearbeitet haben. Wie er die Familie kennengelernt hat und warum die fünf Kinder und der Vater in dem von ihm angemieteten Gebäude wohnten, ist unklar. Der Österreicher selbst dürfte nämlich nicht dort gelebt haben. 

Die Mutter dürfte bereits 2004 gestorben sein, seitdem kümmerten sich die Kinder auch um den Vater, der zuletzt bettlägerig war. Am Montag ging schließlich der älteste Sohn in ein Lokal und berichtete dem Wirten, dass er weggelaufen sei, Hilfe brauche und nicht mehr nach Hause könne. Der 25-Jährige habe auch geschildert, dass er neun Jahre lang nicht mehr draußen gewesen sei. Daraufhin hatte der Gastwirt die Polizei eingeschaltet und die Familie wurde - wie am Dienstag berichtet - im Keller des Bauernhofes gefunden.

Als die Beamten am Bauernhof ankamen, fanden sie sechs Menschen - die Kinder im Alter von 18 bis 25 Jahren und den bettlägerigen Vater - in einem abschließbaren Raum. Die Familienmitglieder sind niederländische Staatsbürger, waren aber in Ruinerwold nicht gemeldet.

25-Jähriger war neun Jahre offline

Der junge Mann hat scheinbar aus der Isolation ausbrechen wollen. Der 25-Jährige war bereits zuvor in dem Wirtshaus und auch seit geraumer Zeit wieder in sozialen Netzwerken unterwegs. Nachdem er vor neun Jahren zuletzt online war, hatte er seit dem Frühjahr wieder mehrere Profile unter dem Vornamen Jan. Er stellte hauptsächlich Fotos von Bäumen online und teilte Berichte über Klimaschutz.

Bürgermeister Roger de Groot bestätigte gegenüber Reuters, dass es sich bei dem Österreicher nicht um den Vater der Kinder handelt. Aber welche Rolle der 58-Jährige hatte, ist nach wie vor unklar. "Der Mann ist in Gewahrsam und wird nun befragt", erklärte Polizeisprecherin Grietje Hartstra. "Es ist noch vieles unklar und wir ermitteln nun, was dort geschehen ist." Eine Sondergruppe mit 25 Beamten soll den Fall aufklären.

Die Familie soll einer Sekte angehört haben und auf "das Ende der Zeiten" gewartet haben, das bestätigte die Behörde allerdings nicht. Hartstra sagte gegenüber Reuters: "Es gibt viele Spekulationen in den Medien, aber die Polizei will Fakten. Es gibt noch viele unbeantwortete Fragen."

Dorfbewohner zeigten sich geschockt. Sie sagten Reportern, dass sie bei dem Hof immer nur einen Mann gesehen hatten. Von einer Gruppe hätten sie nichts gewusst. Der Hof liegt versteckt hinter Bäumen und etwa 200 Meter vom Rande des Dorfes entfernt. Dazu gehören nach Aussagen von Reportern ein großer Gemüsegarten und eine Ziege. Möglicherweise habe sich die Gruppe jahrelang selbst versorgt.

Psychiater Haller: "Darüber steht immer eine Idee"

In Fällen wie jenem der isolierten Familie auf einem Bauernhof in den Niederlanden gebe es immer ein abgeschottetes System und eine ganz klare Machtverteilung zwischen Opfern - etwa Kinder, Behinderte oder Kranke - und einem dominanten, manipulativen, aggressiven Täter, schildert Gerichtspsychiater Reinhard Haller im Gespräch mit der APA. Dazu komme "immer eine Idee, die über dem Ganzen steht". Das könne eine kriminologische Idee sein, wie etwa bei sexuellem Missbrauch oder beim Bedürfnis, Macht auszuüben, oder aber eine fanatische Idee wie etwa bei Sektierern, die an Weltuntergangsszenarien glauben. "Davon gibt es mehr als wir vermuten", so Haller, der betont, nur Hypothesen und keine Ferndiagnose zu liefern.

Die dritte Variante sei, dass jemand krankhafte Wahnideen etwa im religiösen Bereich habe und dieses Wahnsystem auf alle anderen übertrage. "Dann ist nicht einmal eine äußere Gefangennahme erforderlich. Dann wird einfach dadurch, dass sich die Opfer dieser Idee anschließen, die Macht ausgeübt und ein solches System aufrechterhalten." Voraussetzung für ein solches Szenario wäre mangelndes Ich-Bewusstsein, Selbstvertrauen und Durchsetzungsfähigkeit der Opfer, die sich dann einer Führergestalt unterwerfen. Hier würde dieselbe Psychologie dahinterstecken wie bei der Unterwerfung unter einen Sektenführer.

Im Falle der isolierten Familie in den Niederlanden hat Haller die Vermutung, dass diese durch den Tod der Mutter und die Bettlägerigkeit des Vaters führungslos gewesen sei. "Die haben keine Bezugspersonen gehabt und diese Rolle dürfte der Induktor übernommen haben. Das Problem dürfte sein, dass beide Eltern weggefallen sind."

Die Folge jahrelanger Isolation ist laut Haller in jedem Fall eine Wesensänderung. "Je radikaler die Abschirmung ist und je länger sie dauert, umso schwerwiegender sind die Folgen." Im Fall in den Niederlanden komme dazu, dass die Opfer zum Teil ihre Pubertät und damit eine besonders kritische Phase ihres Lebens in Abgeschiedenheit verbracht haben dürften. Und: "Wenn jemand - was hier anzunehmen ist - schon vorher traumatisiert, neurotisch, depressiv, ängstlich oder Ähnliches ist, sind die Folgen schwerer und die Therapie ist nicht einfach, bis die Menschen wieder Urvertrauen gewinnen und resozialisiert werden können."

Vereinigungskirche: Österreicher kein Mitglied

Die Vereinigungskirche in Österreich hat am Mittwoch Berichte zurückgewiesen, wonach der 58-jährige Österreicher, der im Fall einer auf einem Bauernhof jahrelang isolierten Familie festgenommen wurde, Mitglied sein oder gewesen sein soll. Die Vereinigungskirche genießt seit 2015 den Status einer eingetragenen Bekenntnisgemeinschaft in Österreich.

Ulrike Schiesser, Psychologin und Psychotherapeutin der Bundesstelle für Sektenfragen, zeigte sich im APA-Gespräch skeptisch, dass der 58-Jährige in Verbindung mit einer etwaigen Anhängerschaft in der Vereinigungskirche die niederländische Familie isoliert und auf den Weltuntergang gewartet haben soll. "Das passt nicht zusammen", sagte Schiesser. "Da kenne ich andere Gemeinschaften, die das viel stärker betonen." Zentral für die Vereinigungskirche, die von dem 1920 im heutigen Nordkorea geborenen und 2012 verstorbenen Sun Myung Moon gegründet wurde, sei das gute Familienleben. "Weltuntergangsszenarien sind ein Instrument zur Manipulation und Machtausübung", erläuterte Schiesser. In Bezug auf die "Vereinigungskirche" hätte sie aber nie gehört, dass dies als Mittel eingesetzt werde. Von daher müsse man wohl auf weitere Erkenntnisse in dem Fall warten.

In den 1980er-Jahren, als noch Listen über Sekten erstellt wurden, fand sich Schiesser zufolge die Vereinigungskirche immer wieder darauf. Viele Jahre war sie vor allem als "Moon-Sekte" bekannt. Gegen diese Bezeichnung hat sich die Bewegung immer wieder gewehrt. Neben der Familie ist auch der Frieden ein zentrales Anliegen der durch aus sehr aktiven Vereinigungskirche. Erst Ende April fand in der Wiener Stadthalle ein großer Event der Vereinigungskirche statt.

Auch Peter Zöhrer von der Vereinigungskirche sagte der APA, dass apokalyptische Szenarien bei der Vereinigungskirche keine Rolle spielen. "Es gibt solche Gruppen (andere Religionsgemeinschaften, Anm.), die das einsetzen, es gibt aber auch viele harmlose Gruppen." Der 58-jährige Festgenommene sei weder bei der Vereinigungskirche in Österreich noch in den Niederlanden Mitglied gewesen.

Erinnerungen an österreichische Fälle jahrelanger Gefangenschaft

Ob der Österreicher die Familie in den Niederlanden gegen ihren Willen festgehalten hat, ist noch unklar. Die Causa erinnert aber an Fälle in Österreich, bei denen Menschen jahrelang isoliert und gefangen gehalten wurden - allen voran der Fall des Inzestvaters Josef F. in Amstetten.

1998 wird die zehnjährige Natascha Kampusch auf dem Schulweg in Wien entführt und von dem Niederösterreicher Wolfgang Priklopil acht Jahre lang in einem nicht einmal sechs Quadratmeter großen Kellerverlies in seinem Haus in Strasshof an der Nordbahn eingesperrt. Im August 2006 gelingt ihr nach Jahren der Gefangenschaft, in der sie misshandelt wird, die Flucht. Ihr Peiniger wird am selben Tag tot aufgefunden, er ist von einem Zug erfasst worden. Er nimmt sich laut Ermittlern das Leben. Der Fall wird mehrfach neu aufgerollt. Dabei werden den Behörden zwar Ermittlungsfehler attestiert, Gerüchte über etwaige andere Täter oder Mitwisser werden aber zurückgewiesen.

2008 wird in Amstetten der in seiner Dimension unfassbare Inzestfall bekannt. Ein damals 73-Jähriger hält seine Tochter 24 Jahre lang im Keller seines Hauses gefangen, vergewaltigt sie und zeugt mit ihr sieben Kinder. Seit ihrem 18. Lebensjahr war die Frau eingekerkert. Drei der in dem unterirdischen Verlies zur Welt gebrachten Kinder holt der Mann im Lauf der Jahre aus dem Verlies und gibt sie als Enkelkinder aus. Er zieht sie mit seiner Ehefrau groß, wobei er angibt, seine angeblich untergetauchte, möglicherweise bei einer Sekte gelandete Tochter hätte die Kleinen weggelegt. Deren Geschwister wachsen bis zu ihrer Befreiung 2008 im Keller auf, ohne jemals Tageslicht, Wind, Sonne und Natur erlebt zu haben.

Aufgeflogen war der Fall, weil Josef F. auf Drängen seiner Tochter ein schwer krankes Kind ins Spital gebracht hat. Auf der Suche nach für die Behandlung nötigen näheren Daten zu der jungen Frau ergeht via Medien ein Aufruf, die - als vermisst geltende - Mutter der 19-Jährigen möge sich melden. Als Josef F. mit der damals 42-Jährigen im Spital auftaucht, wird er festgenommen. Der Pensionist wird ein Jahr später zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Kellerverlies wird unzugänglich gemacht.

2007 wird bekannt, dass eine Mutter aus dem Großraum Linz ihre drei Töchter sieben Jahre lang in ihrem Haus eingesperrt hat. Auslöser für die Tat ist eine Scheidung. Die Frau verbarrikadiert sich im Haus, zieht die Vorhänge zu, schraubt alle Glühbirnen heraus und lässt die Kinder nicht mehr in die Schule gehen. Den Behörden erzählt die Oberösterreicherin, dass sie die Kinder selbst unterrichtet. Dem Vater sagt sie entweder, dass die Kinder krank oder bei der Oma sind. In ihrem Gefängnis entwickeln die drei Kinder eine eigene Sprache und spielen vor allem mit Mäusen, denen sie Kosenamen geben. Erst als die Nachbarn wiederholt Anzeige erstatten, schreitet die Fürsorge ein.

2019 verhungert eine Frau und ihre Zwillingstöchter in einer Wohnung in Wien-Floridsdorf. Aufgrund einer psychischen Erkrankung der 45-Jährigen dürfte sie ihre 18-jährigen Töchter völlig isoliert haben. Die Familie hatte wenig soziale Kontakte, die Kinder gingen auch nicht zur Schule. Die Wohnung verlassen Mutter und Töchter immer nur gemeinsam. In der Küche werden keine Lebensmittel gefunden. Erst zwei Monate nach ihrem Tod werden die Leichen der drei entdeckt.

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20. April 2024