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"Historisch": Lebenslange Haft in Prozess um Staatsfolter in Syrien

Von nachrichten.at/apa   13.Jänner 2022

Die Richter sprachen den 58-jährigen Anwar R. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachen Mordes, Folter und weiterer Delikte schuldig. Der Beschuldigte war laut Anklage früher Mitarbeiter des Geheimdiensts des syrischen Machthabers Bashar al-Assad und soll ein Gefängnis geleitet haben.

Bahnbrechendes Urteil

Menschenrechtler würdigten das Urteil als bahnbrechend. "Das ist wirklich historisch", sagte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bei einer Pressekonferenz am Donnerstag im schweizerischen Genf. Der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Markus N. Beeko, erklärte in Berlin, das Urteil sei ein "historisches Signal im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit". Weitere Prozesse in Deutschland und anderen Staaten müssten nun folgen.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, begrüßte den "historischen Schuldspruch". Sie forderte andere Staaten auf, Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung gravierender Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben. Der Prozess in Koblenz habe den Fokus wieder darauf gelenkt, wie brutal die Menschenrechte in Syrien über mehr als ein Jahrzehnt hinweg verletzt worden seien.

Der bekannte Menschenrechtsaktivist Omar al-Shughri (26), der in Syrien selbst Opfer von Folter wurde, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der symbolische Wert des Urteils ist ein Beweis dafür, wie ein Trauma uns antreibt, Dinge wieder aufzubauen, von denen wir nie dachten, dass sie jemals erreicht werden könnten. Unsere Vergangenheit ist eine Waffe gegen unsere Feinde." Das Urteil werde nicht das gebrochene Herz jeder Mutter heilen, deren Sohn unter Folter getötet worden sei, und auch nicht Opfer zu ihren Familien zurückbringen. "Aber es gibt uns die Hoffnung, dass das Regime fallen und wir frei sein werden."

Solide Basis für andere Strafverfolger

Das European Centre for Constitutional and Human Rights erklärte, der Koblenzer Staatsfolter-Prozess habe gezeigt, was die internationale Strafjustiz nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip "bei allen Defiziten" leisten könne. Das Urteil schaffe eine "solide Basis" für andere Strafverfolger.

Der deutsche Justizminister Marco Buschmann (FDP) hat das Gerichtsurteil als Vorbild für die Strafverfolgung auch in anderen Staaten empfohlen: "Ich würde es begrüßen, wenn andere Rechtsstaaten diesem Beispiel folgen." Die "Pionierarbeit" des Koblenzer Gerichts verdiene es, weltweit wahrgenommen zu werden. "Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, darf nirgendwo sichere Rückzugsräume finden."

Der Minister erklärte weiter: "In den Foltergefängnissen des Assad-Regimes ist entsetzliches Unrecht geschehen. Das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen übersteigt jede Vorstellungskraft." Hierauf "in der Sprache des Rechts eine Antwort zu geben", sei die Verantwortung der gesamten Staatengemeinschaft.

Mindestens 4000 Häftlinge gefoltert

Nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft, die in dem Prozess die Anklage führte, hatte der Angeklagte früher im berüchtigten Al-Khatib-Gefängnis in der syrischen Hauptstadt Damaskus als militärischer Befehlshaber gewirkt. Unter seinem Kommando waren demnach zwischen April 2011 und September 2012 mindestens 4000 Häftlinge mit Schlägen, Tritten und Elektroschocks gefoltert worden sein. Viele Gefangenen starben durch die Misshandlungen.

In der Urteilsbegründung am Donnerstag zollte der Vorsitzende Richter den überlebenden Opfern, von denen knapp 80 in dem rund zweijährigen Verfahren als Zeugen ausgesagt hatten, Anerkennung. Sie hätten teilweise trotz großer Furcht vor dem syrischen Regime ausgesagt. Sie hätten dies getan, obwohl sie um sich selbst oder ihre Familien gesorgt hätten. "Dafür gilt ihnen mein ganzer Respekt."

Das Urteil in dem weltweit beachteten Prozess entsprach dabei weitgehend der Forderung der Anklage. Die Verteidigung von R. hatte einen Freispruch gefordert. Nach ihrer Darstellung war der Angeklagte für Folterungen in Al-Khatib nicht verantwortlich.

Zweiter Angeklagter bereits verurteilt

Die Bundesanwaltschaft hielt dem in ihrem Plädoyer entgegen, dass R. als militärischer Befehlshaber die Vernehmungsbeamten und Gefängniswärter zum Dienst in der Haftanstalt eingeteilt und ihre Arbeitsabläufe bestimmt. Er habe auch über das Ausmaß der Folter Bescheid gewusst. Die Misshandlungen hätten dabei dazu gedient, Geständnisse zu erzwingen und Informationen zu erlangen.

In dem im April 2020 gestarteten Prozess war auch ein zweiter Mann angeklagt, der als Untergebener von R. an den Folterungen beteiligt war. Ihn verurteilte das Koblenzer Gericht bereits vor fast einem Jahr im Februar 2021 in einem abgetrennten Verfahren wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Opfer erkannte Peiniger wieder

Ins Rollen waren die Ermittlungen und der Prozess gegen die zwei Männer, weil nach Deutschland geflüchtete frühere Opfer ihre mutmaßlichen Peiniger wiedererkannt hatten. Die Beschuldigten wurden dann im rheinland-pfälzischen Zweibrücken sowie in Berlin festgenommen. Dass der Prozess in Deutschland stattfindet, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht. Demnach dürfen auch Taten verhandelt werden, die keinen unmittelbaren Bezug zu Deutschland haben.

Während der Prozess in Koblenz vor dem Ende steht, beginnt am 19. Jänner vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main eine weitere Verhandlung zu staatlicher Folter und Mord in Syrien. Angeklagt ist ein syrischer Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er soll Gefangene gefoltert und einen von ihnen vorsätzlich getötet haben.

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