Das Verschwinden der Mittelklasse
Warum eine entzündete Zahnwurzel in den USA in die Nähe einer finanziellen Katastrophe führen kann.
Kürzlich brachte Debbie (31) eine von der Großmutter vererbte Goldkette mit dazu passendem Armreif und Ohrringen ins Pfandhaus. Ein ungeplanter Zahnarztbesuch hatte der Uber-Fahrerin eine Rechnung von über tausend Dollar beschert. "So viel kann ich nicht fahren, um das Geld zu verdienen", erzählt die alleinerziehende Frau, die ihr Auto zum Taxi umfunktioniert, wenn Sohn Spencer (6) zur Schule geht.
Da sie, wie die meisten Amerikaner, keine Versicherung für die Zähne hat, muss sie selber zahlen. Statt Ersparnissen hat Debbie Studien- und Kreditkartenschulden. Kein Einzelfall in den USA, wo nach einer Untersuchung der Notenbank FED aus dem Jahr 2017 einer von vier Erwachsenen eine unerwartete 400-Dollar-Rechnung nicht begleichen könnte.
Kinderbetreuung nicht leistbar
Damit leben Millionen Amerikaner genau einen Auffahrunfall, einen Wasserrohrbruch oder, wie in Debbies Fall, eine entzündete Zahnwurzel weit von der finanziellen Katastrophe entfernt. Der Uber-Job ist der beste, den die Mutter in ihrer Situation finden kann. "Dann kann ich vor und nach der Schule mit Spencer sein", sagt die Alleinerziehende: "Hier in Washington kann ich mir Kinderbetreuung nicht leisten."
Und Debbie ist mit Spencer schon aus dem Gröbsten raus, da er "nur" noch Betreuung nach der Schule braucht. Nach Angaben der Organisation "Child Care Aware" belaufen sich die Kosten pro Schulkind in Washington im Schnitt auf 13.211 US-Dollar im Jahr. Kinderbetreuungskosten sind aber auch im ländlichen Amerika ein Problem. "Child Care Aware" fand heraus, dass die Beaufsichtigung nach der Schule im Schnitt 5900 Dollar kostet.
Für Eltern mit Kleinkindern schnellen die Kosten in Zentren auf durchschnittlich 23.666 US-Dollar in die Höhe. Die alternative Unterbringung in einer Familie kostet 16.737 US-Dollar. Da es keine staatlich finanzierten Unterbringungsmöglichkeiten gibt und in den meisten Bundesstaaten Kindergärten nicht angeboten werden, stellen Kinder ein zusätzliches Armutsrisiko dar. Debbie kann davon ein Lied singen. In guten Monaten verdient sie bis zu 3000 Dollar. Davon könnte sie nicht einmal die Kinderbetreuungskosten plus ihre Miete bezahlen. Statistisch zählt sie so eben noch zur amerikanischen Mittelklasse, die nach einer Faustformel bei einem Ein-Personen-Haushalt bei 23.400 US-Dollar Jahreseinkommen beginnt und 62.400 US-Dollar aufhört. "Das ist alles nur Theorie", sagt Debbie, die anders als ihre Eltern das Wort "Job-Sicherheit" nicht kennt.
Ihr Vater arbeitet als Bundesbeamter für die Regierung, die Mutter als Krankenschwester. Beide haben eine Krankenversicherung, bezahlten Urlaub und einen Pensions-Sparplan. Allesamt Kennzeichen eines Lebensstils, den noch 70 Prozent der Generation der sogenannten Baby-Boomer genießen konnten. Die "Millenials", zu denen Debbie gehört, sind dagegen froh, wenn sie nur einzelne Leistungen erhalten.
Die Gründe dafür haben nichts mit einer Schwäche der Wirtschaft zu tun. Im Gegenteil, es geht seit Jahren bergauf. In den USA gibt es seit Barack Obama fortgesetztes Wachstum, Vollbeschäftigung, stabile Gewinne der Unternehmen und immer neue Börsenrekorde. Nur in der Realität kommt wenig davon bei den Familien an.
"Es sind das Wohnen, Betreuungskosten und Bildung", nennt Alissa Quart in ihrem Buch "Squeezed: Why Our Families Can’t Afford America" (Gepresst: Warum sich Familien Amerika nicht leisten können) Faktoren, die zum Schmelzen der Mittelklasse beitragen. Beispiel Bachelor-Abschluss, der die Minimalvoraussetzung für besser bezahlte Jobs ist. Der vierjährige College-Besuch kostet an staatlichen Hochschulen leicht 100.000 Dollar und kann an privaten Colleges das Doppelte und mehr ausmachen. Schon heute schieben die Amerikaner 1,5 Billionen Dollar an Ausbildungsschulden vor sich her. Tendenz steigend.
Nach Angaben des "Institute for College Access and Success" in Kalifornien haben zwei von drei Universitätsabsolventen Bildungsschulden; im Schnitt 30.000 Dollar. Neun Millionen ehemalige Studenten können diese bereits schon nicht mehr zurückzahlen und haben persönlichen Bankrott angemeldet.
Besonders düster sieht es für College-Abbrecher aus, die ohne Abschluss, aber mit Schulden die Universität verlassen. Die Faustformel der Statistiker besagt, dass einer von zwei Studenten keinen Abschluss innerhalb von vier Jahren macht und die Hälfte davon aus finanziellen Gründen aufgeben muss. Kein Wunder, dass Millenials in den USA den Kauf des ersten Autos, die Eheschließung, das erste Kind und den Immobilienkauf immer weiter zurückschieben.
Hinzu kommen die Ausgaben für Gesundheit, die selbst mit Versicherung nur zum Teil gedeckt sind. Das Gesundheitswesen der USA ist so teuer, dass es im Schnitt pro Person heute mehr als 10.000 Dollar im Jahr an Kosten produziert. Das schlägt sich im Anstieg der Prämien und Eigenanteile nieder. Lawrence Mishel vom "Economic Policy Institute" meint, das Verschwinden der Mittelklasse gehe einher "mit einer Stagnation der Löhne über die vergangenen vier Jahrzehnte". Mehr als einer von fünf Mittelklasse-Haushalten in den USA gibt laut Zahlen der OECD heute mehr aus, als er verdient. 39 Prozent der Amerikaner haben weniger als tausend Dollar an Ersparnissen.
Ein Milliardär warnt
Gleichzeitig fand eine Umverteilung von unten nach oben statt. Während die im S&P-Börsenindex geführten Unternehmen in den 70er-Jahren noch gut die Hälfte ihrer Gewinne in Forschung, Entwicklung, Weiterbildung und Löhne investierten, fließen heute 94 Prozent in die Taschen der Aktionäre.
Der Spielraum für höhere Löhne wäre nach Ansicht von Kritikern wie dem Hedgefonds-Manager Ray Dalio da, werde aber nicht genutzt. Der Milliardär warnt, das Verschwinden der Mittelklasse führe zu sozialer Destabilisierung. Wenn der Trend nicht umgekehrt werde, drohten "große Konflikte oder eine Form von Revolution".
Freie Kinderbetreuung, eine bessere Krankenversicherung und kostenfreier Zugang zur Bildung hätten Debbie geholfen, den Lebensstandard zu erreichen, den ihre Eltern kannten. So versucht sie mit Uber-Fahren über die Runden zu kommen. Monat zu Monat. Gehaltscheck zu Gehaltscheck. Immer eine unerwartete Rechnung vom nächsten großen Problem entfernt.
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Es wird noch die Zeit kommen, wo die "Oberklasse" Angst bekommen wird vor den ehemaligen "Mittelklasslern" die dann auch der "Unterklasse" angehören werden.
"Jeder dort hat die Möglichkeit sich eine Krankenversicherung zu zulegen. Wer daran spart, ist selbst schuld. "
Jeder kann sich eine Krankenversicherung zulegen, WENN ER DIE KOHLE DAZU HAT. Das ist dort nicht wie bei uns, dass mit einem überschaubaren Betrag eine All-In-Gesundheitsvorsorge für die ganze Familie erworben wird. Zumeist sind das in den USA Pakete, die eine durchschnittliche Vorsorge enthalten und schon die sind nicht billig. Für manche McJob-Arbeiter schon fast unleistbar.
Und wenn etwas schlimmes passiert, dann steht die Familie vor dem finanziellen Ruin.
Ja, Amerika ist ein Land der Gegensätze, aber ...
Jeder dort hat die Möglichkeit sich eine Krankenversicherung zu zulegen. Wer daran spart, ist selbst schuld. Und, es gibt dort wie bei uns, eine Stadtflucht. Mieten sind in NY und co, beinahe unerschwinglich. Jeder weiß das. Natürlich kann man es nicht mit unseren Maßstäben vergleichen, doch die gebürtigen Amis kennen es nicht anders.
Das die Mittelschicht beim Aussterben ist, ist auch nichts neues. Da ziehen wir leider nach.
Und ich schreibe hier über das arbeitende Volk.
und dass im hochgelobten Land!
und wir sind nicht mehr so weit
entfernt davon!
na und? Soll Mitleid angebracht sein? Seien wir froh, dass wir uns Amiland nicht als Vorbild nehmen müssen.
Obwohl - auch dank der Sozialschmarotzer - hier die Schere ebenso immer weiter auseinander geht.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind die Staaten noch nie gewesen. Das Märchen vom "Tellerwäscher zum Millionär" ist eben nur ein Märchen.
So wie der Sowjet-Kommunismus hat sein Ende gefunden, wird demnächst der Kapitalismus ebenfalls Geschichte sein?
Wie lange werden die Amerikaner noch zusehen, wie der Milliardär XY sich die fünfte Yacht kauft, während sie selber nur mit einem Zweitjob überleben können? Und auch das nur, wenn die ganze Familie von Krankheit verschont bleibt.