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Heidi Kastner: „Unrecht als Unrecht benennen“

Von Heidi Kastner   11.März 2010

Missbrauch – kaum zuvor war dieses Thema so allgegenwärtig. Und nie zuvor hat es in einem derart weltumspannenden Ausmaß eine Institution betroffen, die als moralische Autorität, als global player auf dem Markt der Erlösung, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu ihren wesentlichen Aufgaben zählt. Und deren Umgang mit dem Thema der Sexualität schon seit langem Anlass bietet für Kritik, Erregung und auch Ablehnung.

Was liegt näher, als eine Verbindung zu sehen zwischen beiden Themen, einen ursächlichen Zusammenhang anzunehmen? Zwischen der zwar selbst gewählten, aber bedürfnisverleugnenden sexuellen Enthaltsamkeit der Führungskräfte und dem verborgenen Ausleben dieser verbotenen, deshalb nicht weniger mächtigen Bedürfnisse, dem Missbrauch an wehrlosen, ausgelieferten, verfügbaren Anderen.

Autoritätsverhältnisse

Missbrauch ist vor allem der Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses. Regelhaft findet man zwischen Opfer und Täter ein Machtgefälle, das den Übergriff begünstigt, die Geheimhaltung über Androhung von Konsequenzen erleichtert und das Opfer in einer hilflosen und ohnmächtigen Position festhält, aus der es kein Entrinnen sieht. Missbrauch wird überall dort umso leichter wuchern, wo die Bedingungen ihn fördern, wo sich der Täter in Sicherheit vor Aufdeckung wiegen kann und wo die Gefahr gering scheint, den öffentlichen Konsequenzen eigenen Fehlverhaltens ausgesetzt zu werden.

Menschen schauen weg

Bei fortgesetztem Missbrauch braucht es immer ein System, das ihn trägt und begünstigt. Es braucht jemanden, der wegschaut, der dem Opfer die Glaubwürdigkeit abspricht, der ihm eine Mitschuld suggeriert oder unter Androhung von Sanktionen Geheimhaltung einfordert. Nirgendwo findet Missbrauch bessere Wachstumsbedingungen als im Nebel der Vertuschung und unter der Decke der Geheimhaltung. Nirgends sind solche Bedingungen besser gegeben als in einem strikt hierarchisch organisierten, mächtigen System. Und dennoch: Missbrauch ist – kaum je – ein beliebig gewähltes Delikt, kaum je nur eine Frage der Verfügbarkeit.

Noch so lange sexuelle Enthaltsamkeit wird in einem erwachsenen Mann nicht das Bedürfnis wachsen lassen, sich an einem Kind zu vergehen, das natürliche Tabu zu brechen, seine sexuelle Orientierung an die Gegebenheiten anzupassen. Der Zölibat mag vieles sein, wider die menschliche Natur, eine Überforderung, ein nicht einhaltbares Versprechen. Dennoch ist er nicht die Ursache sexueller Umorientierung. Die handlungsbestimmenden Vektoren liegen in der handelnden Person, in deren fehlendem Einfühlungsvermögen, in einem ab der Pubertät entstehenden, von der Norm abweichenden Interesse, in Unreife, die Sexualität trotz mächtiger Bedürftigkeit bedrohlich wirken lässt, in Überheblichkeit, die das Kind zum formbaren Objekt degradiert, in einer Vielzahl an Gründen, denen nur die Verleugnung der zwischenmenschlichen Regeln gemein ist.

Unheilige Allianzen

Fatal wird die Situation dann, wenn solche Menschen ein korrespondierendes Milieu finden und eine unheilige Allianz eingehen, wenn das Böse unter dem Deckmantel des Guten paradiesische Wachstumsbedingungen vorfindet. Gefordert ist eine Klarheit, die die verborgenen Winkel des Systems durchdringt, eine eindeutige Demarkationslinie aufzeigt und Unrecht als Unrecht benennt: „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein; was darüber hinaus ist, das ist von Übel“. (Matthäus 5,37)

Heidi Kastner, Chefärztin für forensische Psychiatrie, Linz

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