Zeit zum Aufstehen
Das Mönchtum brachte ein neues Verständnis der Arbeit, das sich vom antiken Lob der Muße abhob.
Als Bundeskanzler Sebastian Kurz kritisierte, dass "immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder aufstehen, um zur Schule zu gehen", hat das da und dort einen Sturm der Entrüstung entfacht, obwohl allen klar sein muss, dass nicht jene vielen Arbeitenden gemeint sein konnten, die regelmäßig und meist schon sehr früh mit ihrer täglichen produktiven und reproduktiven Arbeit beginnen müssen.
Dass die Kritik vornehmlich aus jenen Parteistuben kam, wo früher das "Lied der Arbeit" zum festen Bestandteil der Mai-Aufmärsche gehörte, ist nicht nur aus der Oppositionsrolle zu erklären, sondern auch als Zeichen, dass nunmehr viele Nachfahren der Altachtundsechziger an den Schaltstellen der Parteipropaganda angekommen sind. Das "Recht auf Faulheit" gehört zum Inventar mancher Linksintellektueller. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, ist durch seine 1883 verfasste Schrift "Das Recht auf Faulheit" bekannt geworden. Karl Marx selbst, der in der Jugend auch von einer Welt ohne Arbeit träumte, hat sich in seinem Alterswerk ganz scharf davon distanziert.
Auch Gotthold Ephraim Lessing verfasste während seiner Studienzeit ein Lob der Faulheit, aber mit dem Zusatz, erst nach getaner Arbeit: "Faulheit, jetzo will ich dir / auch ein kleines Loblied bringen! / O – wie sauer wird es mir, / Dich nach Würden zu besingen! / Doch, ich will mein Bestes tun, / nach der Arbeit ist gut ruhn."
Dass wir uns an ein geregeltes und frühes Aufstehen gewöhnt haben, ist dem mittelalterlichen Mönchtum zu verdanken. Dieses brachte ein neues Verständnis der Arbeit, das sich vom antiken Lob der Muße klar abhob. Die strenge Zeitdisziplin der benediktinischen Ordensregeln verbreitete sich von den Klöstern über die Schulen, Spitäler, Kasernen, Zucht- und Arbeitshäuser bis in die Großbetriebe und bürokratischen Apparate. Die Arbeitswelt wurde von einem immer strenger werdenden Zeitkorsett mit Turmuhr, Wecker, Schulglocke, Tagwache, Stechuhr und heute zunehmend Handy geprägt.
Dass sich im Hashtag "WienStehtAuf" viele Straßenbahnlenker, Müllmänner und Krankenschwestern meldeten, die schon zu Nacht schlafener Stunde ihre Arbeit beginnen, ist selbstverständlich. Natürlich steht auch in Wien der Großteil der Arbeitenden früh auf, wenn auch doch ein bisschen später als in den Bundesländern: Laut einer von der Zeitung "Der Standard" durchgeführten, vielleicht nicht voll repräsentativen Befragung im Mittel um 32 Minuten später als in den Bundesländern. Aber es geht gar nicht um den Zeitpunkt des Arbeitsbeginns, sondern um die Regelmäßigkeit der Arbeitsleistung. Und manchmal muss man froh sein, dass, wenn schon die Eltern nicht früh genug aufstehen, zumindest ihre Kinder regelmäßig zur Schule kommen.
Roman Sandgruber ist emeritierter Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz.
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