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Miglars würziger WortWechsel

14.Mai 2021

Überleben in der Aufmerksamkeitsüberflussgesellschaft?
Habe ich nur dann ein erfolgreiches Winterwochenende bewältigt, wenn ich den Tagesskipass bis auf die völlige Abnützung meiner zuvor messerscharfen Skikanten ausgenutzt und zumindest siebzig Pistenkilometer hinter mich gebracht habe? War das geliebte Sonntagsschnitzel nur dann der Wahnsinnsgenuss, wenn es eine Handbreit über den Tellerrand hinausragte, Erdäpfel und Salat möglichst unsichtbar und das Bier dazu gratis waren? Habe ich perfekt eingekauft, wenn ich für den Preis von zwei Teilen ganze drei oder vier Stück erhalte, auch wenn ich beim Kauf bereits ahne, dass ich einiges davon nicht benötigen, vielleicht sogar wegwerfen werde? Bin ich ein gebildeter Mensch, wenn ich literarische Werke lese, und gelte umgekehrt als nicht besonders klug, wenn mir Liebesromane, Wikingergeschichten oder gar Schnulzenfilme gefallen, von Sissi und Franzl ganz zu schweigen? Muss ich multitaskingfähig sein, oder darf ich mir auch dann auf die Schultern klopfen, wenn ich „nur“ eine Sache gut erledigt habe? Dann die nächste. Dann eine weitere. Und danach eine andere.
Klingt es in unserer konsumorientierten Gesellschaft unglaubwürdig, wenn Statussymbole (Vielfliegermeilen, teure Uhren, fremdes Fell auf eigener Haut, eine Mitgliedschaft im richtigen Club, Rennpferd, Rassehund …) keinen Platz im eigenen Gedankengut finden? Darf ich ungeniert Wein trinken, … aus Tetrapacks? Ist es completely out Stille zu genießen, beim Entspannen nicht geschäftig einer Yoga- oder Meditationseinheit nachzugehen, und dennoch in sich zu ruhen? Bin ich faul, wenn ich stillsitze, scheinbar dem Gras beim Wachsen zusehe, meinen Gedanken nachhänge, dabei nahezu lethargisch wirke, was von außen betrachtet wie Nichtstun aussehen muss? 

Astrid Miglar
Astrid Miglar aus Reichraming (privat)

Kann ich die Corona-Monate ungeniert als Rückzug betrachten? Als „Retreat“, was fraglos eleganter klingt, auch teurer. Retreat, ein Verzicht auf die gewohnte Umgebung, inklusive Gratis-Exerzitien, Klosteraufenthalt daheim, Pause vom Alltag, eine Reduzierung auf Wesentliches? Ein Retreat, … nur wohin und mit wem, und gibt’s dort eine Happy Hour? Soll ich meine Lieblingsjeansjacke weiterhin mit tödlicher Ignoranz tragen, obwohl sie bereits 15 Jahre alt ist, was eigentlich nur ich weiß, … eigentlich!?
„Ja!“, höre ich eine resolute Frauenstimme sagen (eigentlich sagte sie „Yes!“). 
„Wie meinen?“, frage ich und stehe plötzlich vor einer echten Ikone. 
„Vivienne“, sagt sie. 
„Westwood“, ergänze ich ehrfurchtsvoll. „Englische Modedesignerin“, hauche ich hinterher. „Sie könnten meine Mutter sein, nur dass meine Mutter nicht wie eine Punkerin aussieht, wogegen Sie – Dame Westwood – diese Besonderheit für sich in Anspruch nehmen dürfen. Exzentrisch. Farbenfroh. Nicht nur als Persönlichkeit, auch im kreativen Schaffen. Übrigens (Dame Westwood will etwas sagen, kommt aber nicht dazu), es freut mich, dass Sie mit einem Österreicher verheiratet sind. Seit beinahe 30 Jahren.“
Das ist der Augenblick, in dem aufwache. Ich bin während meines geistigen Retreats tatsächlich eingeschlafen, und hatte offenbar eine fatamorganale Erscheinung. Oder heißt das fatamorganistisch?
„Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.“ (André Heller)

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29. März 2024